Re: "En tant que journaliste en Chine"
Otto Kölbl
Sehr geehrter Herr Fischer,
ich wollte Ihnen zuerst dafür danken, dass Sie mir den Text Ihrer Konferenz geschickt haben und mir erlaubt haben, ihn und Ihre untenstehende Antwort auf meinen Blog zu stellen, was ich auch getan habe. So ist es möglich, viel fundierter zu argumentieren, und ich bin sicher, dass Ihre Konferenz auf viel Interesse stossen wird.
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass wir uns weitgehend einig sind in Bezug darauf, wie Chinas Zukunft wahrscheinlich aussehen wird. China wird sich weiter verändern, und dass dazu ein freierer Umgang mit Informationen sowie politische Reformen gehören ist klar. Wie letztere aussehen werden, darüber würde ich auch keine Prognose wagen. Dass kreatives und kritisches Denken für die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Chinas unerlässlich sind, darüber sind wir uns ebenfalls einig. Auch allgemein möchte ich betonen, dass ich Ihre Artikel über China gern lese und sie für viel differenzierter und ausgeglichener halte als das Meiste, was man so in den westlichen Medien finden kann.
In Ihrem Vortrag sprechen Sie jedoch nicht nur über Ihre Arbeit als Korrespondent in China, Sie zeichnen auch ein Bild vom heutigen China, bei dem Sie Ihre Erfahrungen als Ausgangspunkt benutzen. Stellenweise tritt Ihr eigentliches Thema sogar in den Hintergrund, wenn Sie zum Beispiel im letzten Abschnitt (Kapitel 6) nur noch mit zwei Sätzen auf Ihre Arbeit zu sprechen kommen, sonst aber ausschliesslich über die künftige Entwicklung Chinas und Ihren Empfehlungen dafür reden. Eben dieses Chinabild ist es, das (anscheinend nicht nur bei mir) eine heftige Reaktion auslöst, und das meines Erachtens mit der Realität des heutigen Chinas in Widerspruch steht. Ich möchte hier ein paar Punkte Ihres Vortrags aufgreifen:
Kapitel 2, Absatz 3: "Journalismus hat in den Augen der meisten chinesischen Behörden Propaganda zu sein. Er soll diejenigen Informationen möglichst ungefiltert transportieren, welche die Verwaltung zur Veröffentlichung freigibt und die Bevölkerung erbaulich unterweisen. Zahlreiche Informationen, welche als kritischer betrachtet werden, sind nur für den internen Gebrauch bestimmt. Was nicht explizit zur Veröffentlichung freigegeben wird, gilt als geheim. Immer wieder werden Personen wegen Verrats von staatlichen oder kommerziellen Geheimnissen eingesperrt. Eine Rolle der Medien als „Vierte Gewalt“, welche zu kritischen Debatten anregt, ist vielen Chinesen fremd."
Dies mag bis vor ca. 10-15 Jahren richtig gewesen sein, trifft aber heute nicht mehr zu. In den Augen des heutigen Regimes sollen die chinesischen Medien zu einem Grossteil den Kräften des Marktes unterworfen sein. Offiziell sollten auf nationaler Ebene nur eine Tageszeitung und eine Zeitschrift direkt vom Regime finanziert werden, wobei allerdings zwischen offiziellen Stellungsnahmen und informativen Artikel unterschieden wird. Die anderen Zeitungen und Zeitschriften müssen selber sehen, wie sie finanziell durchkommen, und sie tun dies zu einem grossen Teil durch Berichte über Missstände, die bei den Lesern immer gut ankommen. Dass sich das Regime dabei ein Einspracherecht vorbehält (siehe z.B. den Milchpulverskandal 2008) und bestimmte Themen nach wie vor tabu sind (z.B. Infragestellung der Monopolstellung der KP, regimeinterne Machtkämpfe), ändert nichts daran, dass die Medien inzwischen zu einer ernst zu nehmenden vierten Gewalt geworden sind.
Ein spektakuläres Beispiel dafür war 2007 der Bericht in einem lokalen Fernsehsender über Zwangsarbeit, zum Teil von zuvor entführten Kindern, in Ziegeleien. Dieser Skandal hat chinaweit für grosses Aufsehen gesorgt und war das Werk von einem Reporter, dessen Name vielen in China ein Begriff ist, der aber in westlichen Berichten nie genannt wurde. Dies ist nur ein Beispiel davon, dass die chinesischen Medien ihre Rolle als "vierte Gewalt" durchaus ernst nehmen, und dass dies von sehr vielen Chinesen wahrgenommen wird. Ganz allgemein verbreiten die chinesischen Medien viele Informationen über Korruption, Umweltskandale, Gesundheitsskandale und dergleichen, die ja auch die Basis für viele westliche Medienberichte sind. Ich würde es begrüssen, wenn sich unsere Medien für die von ihren chinesischen Kollegen oft unter erheblichem persönlichem Risiko geleistete Arbeit wenigstens bedanken würden, anstatt sie einfach wegzuwischen. Ich persönlich kenne keinen Chinesen, der die heutige kritische Rolle der chinesischen Medien nicht als positiv betrachtet, und auch keinen, der sich ihrer nicht bewusst ist. Eine noch grössere Macht als die "klassischen" Medien hat in diesem Bereich natürlich das Internet, das für viele Chinesen die wichtigste Quelle für Informationen über Missstände und Skandale ist.
Kapitel 6, Absatz 2 und 3: "Das Bildungssystem fördert bisher systematisch Auswendiglernen und Obrigkeitshörigkeit. Die Übernahme von Verantwortung lohnt sich in China meistens nicht. Wenn ich eine auch noch so konstruktive Anfrage an eine chinesische Amtstelle richte, findet diese praktisch sicher tausend Ausreden, wieso sie dafür nicht zuständig ist oder der Bitte nicht entsprechen kann. Denn Nichtstun schadet nichts. Befasst man sich jedoch mit dem Journalisten, könnte man einen Fehler machen und dafür abgestraft werden. Chinas Regierungs- und Gesellschaftssystem ist gut im Planen, Verordnen, Abstrafen und auch im Durchsetzen. Aber Innovation und Kreativität lassen sich nicht einfach verordnen oder einkaufen."
Sie beschreiben hier eine starre, durch Angst vor Fehlern fast gelähmte Verwaltung. Ich möchte darauf hinweisen, dass China das Land ist, das sich in den letzten 30 Jahren am schnellsten entwickelt und auch sonst verändert hat. In einem System, wo die Hand des Staates nach wie vor sehr stark ist, ist das weniger der Verdienst der Privatwirtschaft als anderswo. Wie hätte China sich so schnell entwickeln können, wenn die Beamten keine Initiative gezeigt hätten? Vor allem in den 80er Jahren gingen die meisten Unternehmensgründungen auf das Konto von Beamten, die im Rahmen der staatlich gelenkten Wirtschaft eine kollektive Fabrik aufbauten. Auch jetzt noch gibt es kaum neue Projekte, wo die Verwaltung nicht in einer Form oder der andern die Hand im Spiel hat.
Wie wäre das alles möglich, wenn diese Verwaltung neuen Ideen gegenüber nicht offen wäre und vor allem von der Angst vor Fehlern beherrscht wäre? Ich habe selbst oft mit Beamten zu tun gehabt, vor allem im Bildungssystem. Ich habe meistens Leute vorgefunden, die viel flexibler und risikobereiter waren als in der Schweiz, auch wenn im Bildungssystem die Möglichkeit zur persönlichen Bereicherung weniger gegeben ist als in anderen Bereichen. Sogar Soziologen bescheinigen Chinesen eine extrem hohe Risikobereitschaft, viel grösser als diejenige der Westeuropäer. Dies kann kaum nur für Leute gelten, die nicht im öffentlichen Dienst stehen, da ja die Beziehungen zwischen Verwaltung und Wirtschaft in China bekanntlich besonders eng sind und oft auch persönlicher Natur sind.
Dass Sie nicht die gleiche Erfahrung gemacht haben, kann ich gut nachvollziehen. Dies beruht aber meines Erachtens nicht auf einem systeminhärenten Problem, sondern an einer rationellen Kosten-Nutzen-Rechnung. Wenn ein Beamter mit einem Vertreter der ausländischen Medien spricht, welchen Nutzen kann er sich erhoffen? Wird das dem Bereich, für den er verantwortlich ist, helfen, sich positiv zu entwickeln? Wohl kaum. Wenn Sie hier von "konstruktiven Anfragen" sprechen, gilt das Wort "konstruktiv" vor allem für Ihren Blickwinkel. Das Risiko ist hingegen gross, dass seine Aussagen von den ausländischen Medien schlecht verstanden oder falsch dargestellt werden. Seine Ausrede zeugt also nur von der Fähigkeit, eine Kosten-Nutzen-Analyse rationell durchzuführen und daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen.
Kapitel 5, Absatz 1: Das chinesische System gründet vielmehr auf der Herrschaft der eingangs erwähnten technokratisch-bürokratischen Elite, welche im Schosse der Partei die Wirtschaft und Gesellschaft organisiert, kontrolliert und ihre Entwicklung langfristig plant. Die Mitglieder dieser Elite sehen Wissen und Information häufig als Grundlage ihrer Macht, welche sie nicht durch störende Mitsprache einschränken lassen wollen. Viele Entscheide fallen wenig transparent, weil so die spezifischen Interessen der Elite und deren Familien besser berücksichtigt und austariert werden können. Der „gewöhnliche Chinese“ muss durch die Medien in seinem Handeln und Denken angeleitet werden, aber er soll dabei nicht ins Grübeln kommen. Vieles braucht er laut der im Reich der Mitte immer noch vorherrschenden Mentalität schlicht nicht zu wissen.
Sie stellen hier die chinesische Gesellschaft total passiv dar; sie werde von der kommunistischen Partei "organisiert, kontrolliert und ihre Entwicklung langfristig geplant". Ich habe unzählige Male gesehen, wie die in meiner ersten Email erwähnten Feedbackmechanismen funktionierten. Man denke etwa an die 100'000 Protestbewegungen, die es in China jedes Jahr gibt.
Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: ca. 2003 oder 2004 erklärte mir eine Person in China, dass die öffentliche Meinung jetzt Druck auf die Regierung mache, damit die Familienmitglieder der höchsten Würdenträger öffentlich bekannt machen, wie sie ihr Geld verdienen, damit man zumindest abschätzen könne, in welchem Masse sie von ihren Beziehungen profitieren können. Sechs Monate später las ich einen Artikel der NZZ, wo sich der Autor über die Ehefrau eines Vizepremierministers (genau habe ich es nicht mehr im Kopf) lustig machte, die öffentlich aufzählte, welcher Aktivitäten sie und ihre Kinder nachgingen. Dies sei wohl eine neue Propagandatechnik des kommunistischen Regimes, so die NZZ. Nein, es war das Ergebnis einer erfolgreichen Kampagne der chinesischen öffentlichen Meinung.
Ganz allgemein gibt es in China sehr viele Aktivisten, die sich organisieren und für einen bestimmten Zweck einsetzen. Es gibt auch einen viel breiteren Bevölkerungskreis, der nur gelegentlich seine Stimme hören lässt, wenn es einen dringenden Grund dafür gibt. In dem Bild, das Sie von China zeichnen, wischen Sie all diese Personen einfach vom Tisch.
Natürlich gibt es in China (genau wie im Westen) Personen, die es nicht schaffen, sich mit ihrem Anliegen durchzusetzen. In Ihrer Konferenz sprechen Sie von Bewohnern eines Dorfes, das einem Immobilienprojekt weichen muss und dessen Bewohner deshalb umgesiedelt werden. Warum können sie dieses Projekt nicht aufhalten, wenn die öffentliche Meinung doch einen Einfluss hat?
Das Problem ist hier, dass eben diese öffentliche Meinung (nach meiner Erfahrung) praktisch geschlossen hinter dem Vorgehen der Regierung steht, das darin besteht, grosse Flächen beanspruchende traditionelle Häuser durch effizientere Hochhäuser und allen zugute kommende Grünflächen zu ersetzen. Selbst unsere Medien finden nur vereinzelte Personen, die diesen Prozess allgemein in Frage stellen. Auch Personen, die in der Vergangenheit direkt oder deren Familienmitglieder davon betroffen wurden, bejahen das Vorgehen im Prinzip. Dass es regelmässig zu Protestbewegungen von Personen kommt, die damit unmittelbar konfrontiert sind, ändert nichts daran, dass sich einfach keine Mehrheit (und nicht einmal eine bedeutende Minderheit) finden lässt, um gegen das System allgemein zu protestieren.
Einführung, Absatz 5: "Meiner Ansicht nach ist das chinesische Wirtschaftswunder Resultat von viel harter Arbeit und einer neuen Bereitschaft der chinesischen Führung, sich zu öffnen und vom Ausland zu lernen. Die Früchte der lange Zeit noch in sehr grosser Armut verrichteten Arbeit durften die Chinesen zu einem beträchtlichen Teil nicht geniessen. Stattdessen wurden und werden sie gespart und in Infrastruktur und unternehmerische Tätigkeiten investiert. Ausländische Investoren haben zur wirtschaftlichen Wiederbelebung Chinas entscheidende Beiträge geleistet. Doch der den chinesischen Bauern und Arbeitern jahrzehntelang abverlangte Konsumverzicht und die Art und Weise, wie Gelder in unter rein marktwirtschaftlichem Gesichtspunkt häufig fragwürdige Infrastrukturprojekte investiert wurden und werden, wäre in einem demokratischeren und transparenteren System so wohl kaum möglich."
Gemäss allen Zeugenaussagen hat sich der Lebensstandard der chinesischen Bevölkerung seit den Reformen Ende der 70er Jahre sehr schnell verbessert. Davon zeugt folgende Graphik, die ich im World Development Report 2008 der Weltbank, S. 46 gefunden habe:
Die Abnahme der Armut war im Gegenteil sehr schnell am Anfang des "Wirtschaftswunders", stagnierte dann und erlebte einen Rückschlag zwischen 1988 und 1989, was durch eine von Zhao Ziyang verordnete Preisliberalisierung verursacht wurde, die dann zu den Ereignissen von 1989 geführt haben.
Ganz allgemein zeichnen Sie in Ihrer Konferenz ein Bild von China, das perfekt auf das letzte Jahrhundert unter der Monarchie gepasst hätte: eine total passive Bevölkerung, die ausser regelmässigen Aufständen nichts konstruktives beiträgt; die sich beliebig organisieren lässt, wobei dies aber von Beamten vorgenommen wird, die nicht viel anderes als auswendig lernen gelernt haben und deshalb extrem konservativ bis zur totalen Lähmung sind. Es ist für jeden, der sich mit der Entwicklung der verschiedenen Länder dieser Erde befasst hat, offensichtlich, dass sich so ein Land nicht entwickeln kann, und das hat China in den letzten Jahrhunderten der Monarchie bekanntlich auch nicht getan.
Sie aber sprechen vom heutigen China, also von einem Land, in dem in den vergangenen Jahrzehnten extrem viel passiert ist, das alles Mögliche ausprobiert hat, anfänglich nicht immer mit Erfolg, seit drei Jahrzehnten jedoch mit mehr Erfolg als irgendein anderes Land. Dabei hat sich nicht nur die Wirtschaft entwickelt, auch die Gesellschaft hat sich enorm verändert. Wäre es zum Beispiel vor zehn Jahren möglich gewesen, dass sich ganz China über Zwangsarbeit in Ziegeleien empört, was sie durch Medienberichte erfahren haben, und die Behörden zum Handeln zwingt? Wohl kaum. In vielen anderen Ländern, die vor 60 Jahren den gleichen Entwicklungsstand wie China hatten, ist das auch heute noch nicht möglich. Nicht, weil die Medien nicht über solche Missstände berichten können (das können sie in den meisten anderen Ländern schon längst), sondern weil solche Probleme einfach als zur Armut gehörend betrachtet werden. Mir scheint doch, dass es hier einen enormen Widerspruch gibt zwischen dem Bild, das Sie von China zeichnen, und den Fakten, die allgemein bekannt sind.
Ausserdem kann ich gut nachvollziehen, dass die Art, wie Sie die Chinesen beschreiben, die betroffenen Personen verletzt. Alles, was Sie über dieses Thema in Ihrem Vortrag sagen, geht in die gleiche Richtung: sie seien passiv, liessen sich von der kommunistischen Partei beliebig organisieren und planen, liessen sich alles gefallen ohne aufzumucken. Vergleichen Sie die Geschichte von China mit derjenigen der anderen Länder der Region. Kein anderes Land hat so viele Aufstände gesehen, wobei diese in China so heftig waren, dass das ganze Land mehr als 10 Jahre lang (1916 - 1928) ein einziges Chaos war. Es gibt wahrscheinlich wenige Völker auf der Welt, die so schwer zu regieren sind wie die Chinesen. Man braucht nur durch China zu reisen um zu sehen, dass die Bewohner dieses Landes alles andere als gehorsam und obrigkeitshörig sind.
Es geht mir insofern überhaupt nicht darum, das jetzige Regime zu verteidigen, und schon längst nicht "vorbehaltlos". Bevor man jedoch die Bilanz eines Regimes diskutiert, muss man sich über die aktuelle Lage in diesem Land einig sein. Ich würde selbstverständlich wenig Positives zu sagen finden über das Land, das Sie in Ihrem Vortrag beschreiben. Wenn ich jedoch sehe, wie das kommunistische Regime es geschafft hat, die gelähmte Beamtenschaft der Monarchie und die inkompetente, korrupte Beamtenschaft der Republik in eine Verwaltung zu verwandeln, die heute mit erheblichem Einsatz, oft genug mit grosser Risikobereitschaft und zumeist mit Erfolg die Entwicklung des Landes vorantreibt (und dabei oft gehörig verdient, das sei auch betont), darf man darüber natürlich nicht die erheblichen Probleme im heutigen Chinas vergessen.
Angesichts des Ergebnisses sollten wir jedoch zuerst einmal versuchen, die dahinterliegenden Mechanismen zu verstehen. Viele Länder haben schon versucht, eine derartige Entwicklung "zu planen, zu verordnen oder durchzusetzen" (Kapitel 6, Absatz 3), mit wenig Erfolg, wie wir unter anderem aus der ehemaligen Sowjetunion wissen. Dementsprechend haben schon viele Experten seit mehr als 20 Jahren ein schnelles Ende des chinesischen "Wirtschaftswunders" vorhergesagt.
Dass das Modell, das Sie beschreiben, China nicht zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung verhelfen kann, darüber sind wir uns einig. Mit einer "verordneten" Entwicklung, die auf billiger Arbeitskraft, durch Angst vor Fehlern gelähmten Beamten und durch Zensur "unfrei" gemachten Köpfen beruht, kann man bestenfalls bis zu einem bestimmten Niveau kommen, aber nicht weiter (obwohl nur schon das kein Land mit dieser Geschwindigkeit geschafft hat). Dieses von Ihnen beschriebene "traditionelle Modell" (Kapitel 6, Abschnitt 6) hat in China jedoch nie existiert.
Schon bevor Sie und ich geboren waren, war es Mao Zedong und seinen Kollegen klar, dass so keine nachhaltige Entwicklung möglich war. Wachstum war nur durch die Beherrschung von Spitzentechnologie und durch eine aktive Bevölkerung möglich. Dass dazu kritisch und kreativ denkende Köpfe nötig waren, war damals auch schon klar. Jede zu schnelle Liberalisierung der Kontrolle über die Information hat jedoch systematisch zu einer unkontrollierbaren Situation geführt. Dass das Regime es inzwischen geschafft hat, eine progressive Liberalisierung der Information zu managen, sollte meiner Meinung nach gewürdigt werden; Sie erwähnen es jedoch mit keinem Wort in Ihrer Konferenz, die eben diesem Thema gewidmet ist.
Ich warte zum Beispiel schon lange darauf, dass die westlichen Medien über die Model-United-Nations-Programme an den chinesischen Universitäten berichten. In diesem Rahmen wird beträchtlicher Aufwand getrieben, damit an Aussenpolitik interessierte chinesische Studenten sich über die Weltpolitik und das Funktionieren der UNO informieren können und ihre Leidenschaft mit Studenten aus aller Welt teilen können. Dabei geben einige Universitäten erhebliche Summen aus, um ihre Studenten zu den entsprechenden internationalen Treffen zu schicken oder sogar um solche Treffen in China zu organisieren.
Ich habe grosse Augen gemacht, als eine meiner Studentinnen mir diese Programme erklärte; ich hätte sie in China nicht für möglich gehalten. Genauso geht es allen Leuten aus dem Westen, die ich darüber informiere. Warum die westlichen Medien uns diese Informationen vorbehalten, ist mir unerklärlich, da sie hier auf Interesse stossen und durchaus relevant sind, um die heutige Entwicklung in China zu verstehen.
Ganz allgemein unternehmen vor allem die Universitäten grosse Anstrengungen, um die Studenten zum kritischen Denken anzuregen, und zwar auch im politischen Bereich. Die politischen Systeme der westlichen Länder gehören in vielen Fächern zum Unterrichtsprogramm und werden in Hörsälen offen diskutiert. Da es in jeder Fakultät einen Parteisekretär gibt, geschieht dies nicht ohne Billigung von ganz oben. Auch ganz konkret werden Schüler und Studenten in die Demokratie eingeführt, indem die Parteimitgliedschaft und andere Ämter von regelrechten Wahlkämpfen innerhalb der Klassen abhängig gemacht werden.
Irgendwie muss man doch schliesslich erklären können, warum chinesische Studenten und Wissenschaftler an westlichen Universitäten so gefragt sind. Kreatives und kritisches Denken kann man nicht in ein oder zwei Jahren lernen, nur weil man plötzlich "freie Luft schnuppern" kann.
Allgemein geht es mir überhaupt nicht um die Reaktion des chinesischen Regimes auf westliche Medienberichte oder auf Ihre Konferenz; ich kenne die offizielle Position der Regierung nicht einmal so gut. Das starre und praktisch gelähmte Bild, das Sie in Ihrem Vortrag von China zeichnen, steht jedoch in krassem Widerspruch zu allem, was ich bisher sowohl von regimefreundlichen als auch von extrem regimekritischen Chinesen gehört habe.
Alle bescheinigen der Regierung, dass die von Ihnen vorgeschlagenen Veränderungen (Liberalisierung der Information, Förderung des kreativen und kritischen Denkens, usw.) längst im Gange sind, und können dies oft mit konkreten Beispielen belegen. Viele von ihnen verweisen auch nicht ohne Stolz auf den Einfluss, den die öffentliche Meinung auf das Regime hat; sie als total passiv und von der KP kontrolliert und geplant hinzustellen ist bestenfalls eine Beleidigung. Und dass die Chinesen unfähig seien, sich in kritischem und kreativem Denken zu üben, bloss weil bestimmte Themen in den Medien nicht angesprochen werden dürfen, weisen ebenfalls alle von der Hand, und ich kann ihnen nur durch Vergleiche zwischen Schweizern und Chinesen, in ähnlichen Bedingungen befragt, recht geben.
Es gibt in den westlichen Medien einfach zu viele Berichte, die sowohl von regimefreundlichen als auch regimekritischen Chinesen entschieden zurückgewiesen werden, und ich würde mir wünschen, dass es diese nicht mehr geben würde. Wie ich anfänglich schon betont habe, denke ich dabei eben nicht an erster Stelle an Ihre Berichte über China. Ihre hier mehrfach zitierte Konferenz fand ich jedoch in diesem Sinne extrem problematisch.
Zum Schluss möchte ich auf eine Stelle in Ihrer letzten Email an mich reagieren:
Im Gegensatz zu Ihnen bin ich aber der Ansicht, dass wer will, sich im Westen relativ frei über Chinas Errungenschaften und Kultur informieren kann. Es gibt im Westen kein offizielles Geschichtsbild des Reichs der Mitte und Beiträge wie der Ihre oder der meinige können frei veröffentlicht und diskutiert werden. In Festlandchina hingegen herrscht Zensur und entscheidet die Partei darüber, was der "gewöhnliche" Chinese (der in seiner Mehrheit noch nie im Ausland war) lesen darf und was nicht. Manche meiner Artikel werden in Festlandchina übersetzt veröffentlicht, wobei jeweils Sätze und Abschnitte weggelassen werden, die als nicht für die chinesische Leserschaft geeignet empfunden werden. Ich fände es schön und vor allem für China selbst förderlich, wenn sich das ändern würde. Ich anerkenne dabei durchaus, dass China im Vergleich zu vor dreissig Jahren auch in Informationsbelangen viel freier geworden ist und dass das Internet einiges verändert hat. Aber nur eine absolute Minderheit der Chinesen kann die "Grosse Firewall" umgehen. Zumindest ich erlebe hier tagtäglich, wie effektiv die chinesische Propaganda immer noch ist.
Ich war auch der Ansicht, dass man "sich im Westen relativ frei über Chinas Errungenschaften und Kultur informieren kann", wie Sie sagen. Dann häuften sich jedoch Erfahrungen, wo ich einsehen musste, dass man oft sehr tief suchen muss, manchmal bis hin zu nicht aufbereiteten rohen Statistiken von internationalen Organisationen, um bestimmten Fragen nachzugehen, die China ganz direkt betreffen. Es gibt zahlreiche Bereiche, wo Informationen, die unser westliches Selbstverständnis in Frage stellen, von unserem Medien und oft schon von Allgemeinhistorikern systematisch verzerrt werden, wo nur die Suche nach Fachpublikationen von Spezialisten eine sachliche und ausgeglichene Darstellung anbieten, wobei man meistens nur auf Englisch fündig wird. Anders gesagt: diese Informationen sind auch im Westen nur für eine verschwinden kleine Minderheit verfügbar. Dies sei jetzt so dahingestellt, am Ende des Sommers sollten weitere Daten dazu auf meinem Blog verfügbar sein.
Solche statistische Rohdaten und Fachpublikationen sind jedoch gleichermassen auch der entsprechenden chinesischen Minderheit frei zugänglich. Dafür braucht man nicht einmal den "grossen Firewall" zu umgehen. Ich konnte z.B. von einer chinesischen Universität aus ohne weiteres auf akademische Studien zum Status von Tibet vor 1950 zugreifen; nur um zu entdecken, dass das, was ich in unseren Medien gehört und gelesen hatte, fragwürdig war und ich vor meinen chinesischen Studenten "das Gesicht verloren hatte", weil ich ihnen die Unabhängigkeit Tibets vor 1950 als eine Tatsache darstellt hatte.
Es geht hier nicht um "Propaganda" oder "offizielles Geschichtsbild" oder "Zensur". All dies gibt es in China, da sind wir uns einig, aber im Westen nicht. Wenn man jedoch nachforscht, was die Leute im Westen und in China tatsächlich wissen oder zu wissen glauben, und wenn man dies gegen solide Fakten testet, fällt der Vergleich nicht unbedingt zum Vorteil des Westens aus. Ich musste mit Schrecken feststellen, dass es im Westen kaum wissenschaftliche Forschung darüber gibt, wie unsere Medien uns über ferne Länder wie China informieren, oder leider allzu oft "desinformieren". Um hier nur ein paar Beispiele zu nennen:
Ich musste mir in den Medien nie zitierte Quelltexte über die Menschenrechte durchlesen, um zu erfahren, dass mein Konzept der Menschenrechte, das ich mir nach jahrelangem intensivem Medienkonsum angeeignet hatte, falsch war (und dass die chinesischen Regierung recht hatte…)
Ich musste mir dicke englischsprachige Wälzer (von westlichen und tibetischen Historikern geschrieben) über die Geschichte von Tibet hineinziehen, um zu merken, dass ich von unseren Medien jahrzehntelang hinters Licht geführt wurde.
Ich musste hunderte Seiten von Berichten durchackern und tausende von Daten von zig verschiedenen Organisationen mit statistischen Methoden wie Logarithmustransformationen, Korrelationen und linearen Regressionen bearbeiten, um zu merken, dass Organisationen wie Amnesty International systematisch die Menschenrechte verraten.
In all diesen Bereichen fing es damit an, dass mir Chinesen etwas sagten, was mir falsch erschien, dem ich aber doch nachgehen wollte. Ich möchte deshalb einfach die Frage aufwerfen: Haben "nur" die Chinesen einen "Mangel an Freiheit in ihren Köpfen" (Ihr Vortrag, Kapitel 6, Absatz 1), oder eben auch die Leute im Westen? Oder ist der westliche Eindruck eines "Mangels an Freiheit" in chinesischen Köpfen vielleicht manchmal darauf zurückzuführen, dass wir vieles über China zu wissen glauben, was aber nicht zutrifft, wir aber Chinesen, die uns darüber aufklären wollen, nicht vertrauen? Ganz allgemein musste ich regelmässig feststellen, dass Chinesen viel besser über ihr Land informiert sind als Leute aus dem Westen, und sehr oft auch als westliche Medien. Und zwar trotz Firewall und Zensur.
Mit freundlichen Grüssen
Otto Kölbl