Prof. Kai Hafez, Prof. Thomas Heberer, Carola Richter und Sebastian Gebauer:
Otto Kölbl
Einleitung
Der Forschungsbericht Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien, 2010 erschienen, ist sehr interessant, in mancher Hinsicht jedoch auch recht fragwürdig.
Ganz allgemein wird man den unangenehmen Eindruck eines Whitewash der deutschen Medien nicht los: Nur sie kommen zu Wort, kein einziger Chinese wird zu seiner Meinung befragt.
In den letzten Jahren hatte ich Gelegenheit, mit vielen von ihnen über die westlichen Medien zu diskutieren, und sie haben eine Menge zu sagen. Viele Informationen, die ich so erhalten habe, stellten sich im Nachhinein als korrekt heraus, obwohl sich mich zuerst überraschten. Als sich solche Erlebnisse häuften, beschlich mich immer mehr das Gefühl, dass ich von unseren Medien hinters Licht geführt worden war: Vieles von dem, was sie uns erzählen, hält einer Konfrontation mit soliden westlichen Quellen einfach nicht stand.
Umso wichtiger wäre es, dass die Medienwissenschaft diese Widersprüche untersucht, dies geschieht jedoch nicht. Weder in diesem noch in anderen Forschungsprojekten wird die Berichterstattung je mit zuverlässigen Quellen verglichen (siehe unseren Artikel Was tut die akademische Forschung gegen die fragwürdigen Methoden unserer Medien?).
Insofern ist es nicht erstaunlich, dass der hier thematisierte Forschungsbericht an allen problematischen Fragen einfach vorbeischiesst. Den verschiedenen Autoren gelingt es nicht einmal, sich auf ein einheitliches Konzept der Menschenrechte zu einigen, obwohl dies ein Schlüsselthema zum Verstehen des rhetorischen Konflikts zwischen China und dem Westen ist. Von einem Menschenrechtskonzept, dass sich auf die grundlegenden Texte der UNO stützt, kann natürlich nicht die Rede sein.
Auch in allen anderen Themen wird einfach davon ausgegangen, dass unsere Medien ihre Arbeit im Grossen und Ganzen recht gut machen: Die Autoren begnügen sich weitgehend damit, die Berichte der verschiedenen Medien untereinander zu vergleichen. In vielen Bereichen gibt es systematische Widersprüche mit westlichen Quellen oder mit der Realität in China: Tibet, Umweltpolitik, Falungong und Religionsfreiheit. Durch die gewählte Methodologie bleiben sie jedoch unentdeckt.
Ich habe an die Verfasser eine erste ausführliche Reaktion geschickt, in der ich vor allem auf folgende Konzepte einging: Quellenvielfalt, Menschenrechte, die Unabhängigkeit Tibets vor 1950, Klima- und Umweltpolitik sowie die Sekte Falungong.
Prof. Hafez hat als einziger darauf reagiert, wobei ich viele Elemente in seiner Antwort sehr interessant fand. Um auf seine Argumente einzugehen und ein paar Missverständnisse zu klären, habe ich ihm wiederum geantwortet, mit der Bitte, seine erste Antwort auf rainbowbuilders.org veröffentlichen zu dürfen. Er hat dies jedoch zu meinem Bedauern verweigert, was aus meiner Sicht einer gerechten Behandlung des Themas nicht unbedingt förderlich ist.
Da ich in meiner zweiten Reaktion auf seine Argumente einging und diese auch ausführlich zitierte, kann ich diesen Text ebenfalls nicht publizieren. Um dieses Problem zu umgehen habe ich meine beiden Texte zu einem einzigen verschmolzen und noch überarbeitet. In der hier publizierten Form ist diese Email also nie abgeschickt worden. Die unten genannten Verfasser des Forschungsberichts sind jedoch über die Präsenz dieses Textes auf der Website unterrichtet.
Der Text
Sehr geehrter Herr Hafez,
sehr geehrter Herr Heberer,
sehr geehrte Frau Richter,
sehr geehrter Herr Gebauer,
ich möchte Ihnen für das sehr interessante Buch Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien danken. Ich habe es mit grossem Interesse gelesen und sehr viel erfahren über die Funktionsweise der Auslandsberichterstattung in den deutschen Medien. Ich wollte jedoch ein paar Themen anschneiden, deren Behandlung mir in Ihrem Projekt ein bisschen problematisch erscheint. Der Einfachheit halber werde ich den Bericht von Frau Richter und von Herrn Gebauer als "Forschungsbericht" bezeichnen und die zwei weiteren Texte als "Beiträge".
Die Quellenvielfalt
Sie erwähnen es nicht ausdrücklich in Ihrem Buch, aber ich glaube doch annehmen zu dürfen, dass ein Grund für das Erscheinen der Ergebnisse von zwei grossen, mit Fremdmitteln finanzierten Forschungsprojekten über die westliche Berichterstattung über China im Sommer 2010 mit der Kritik der chinesischen Regierung und vieler Chinesen an der westlichen Berichterstattung über China im Umfeld der Olympischen Spiele 2008 in Beijing zu tun hat. Viele Beteiligte spürten das Bedürfnis, diesen Vorwürfen nachzugehen und zu untersuchen, ob sie gerechtfertigt waren. Bei dem zweiten hier erwähnten Projekt handelt es sich um "Communication and the Olympics: the Challenge and Opportunity for Beijing 2008 in Intercultural Exchange", das vom International Olympic Committee's Olympic Studies Centre in Auftrag gegeben wurde und im Juni-Juli 2010 in einer Sonderausgabe des International Journal of the History of Sport erschien. Weitere Forschungsprojekte sind mir nicht bekannt, ich bin natürlich dankbar für jegliche Hinweise.
Die Kritik von Chinesen drückte sich 2008 auf vielfältige Weise aus. Einige waren einfach wütend, andere versuchten, mit ihren Argumenten in die westlichen Medien zu gelangen, was ihnen nur in sehr beschränktem Masse gelang. Wieder andere versuchten es durch Massenbewegungen, z.B. Demonstrationen oder den Boykott von französischen Produkten. Auch Versuche, an den Medien vorbei direkt die Bevölkerung von westlichen Ländern zu informieren, wurden unternommen.
Ich habe mit vielen von ihnen über das Thema diskutiert, und musste feststellen, dass viele ihrer Argumente fundiert sind, wenn man das Thema anhand von westlichen oder internationalen Quellen vertieft. Umso fragwürdiger finde ich es, dass das, was sie sagen, nur allzu oft als "kommunistische Propaganda" abgetan wird. In Ihrem Forschungsprojekt wird das Problem elegant umgangen: sie kommen gar nicht zu Wort. Während Sie durchwegs "Quellenvielfalt" predigen, sehe ich keine Spur davon in Ihrer Forschungsarbeit.
Im Folgenden möchte ich auf ein paar Themen näher eingehen. Dabei ist meine Vorgehensweise ziemlich konstant: Ich möchte auf Probleme hinweisen, auf die ich in Gesprächen mit Chinesen aufmerksam wurde. Dabei handelte es sich praktisch nie um offizielle Kanäle, sondern einfach um "normale Bürger": Studenten, Lehrer, Wissenschaftler, Arbeiter, Taxifahrer, Angestellte; einige waren Mitglied der KP China, die überwiegende Mehrzahl jedoch nicht. Ein Teil von ihnen lebte im westlichen Ausland und hatte so Zugriff zu den westlichen Medien, andere waren noch nie im Ausland gewesen.
Das Erschreckende daran ist, dass ich so oft feststellen musste, dass das, was ich von den westlichen Medien erfahren hatte, einer näheren Untersuchung einfach nicht standhielt, wobei ich mich entweder auf westliche mainstream-Wissenschaftler stützte oder auf die Daten von internationalen Organisationen wie die Organe der UNO, die Weltbank oder Nichtregierungsorganisationen. Nur allzu oft waren also die Vorwürfe von vielen Chinesen gegenüber den westlichen Medien gerechtfertigt. In Ihrem Buch wird auf viele der wirklich problematischen Aspekte jedoch überhaupt nicht näher eingegangen.
Die Menschenrechte
Das wohl krasseste Beispiel für das Aneinandervorbeireden zwischen dem Westen und China war die heisse Diskussion über die Menschenrechte, die zwischen China und dem Westen 2008 einen (vorläufigen) Höhepunkt gefunden hat, aber in Ihrem Bericht nicht einmal angesprochen wird. Es geht dabei um die fundamentale Frage, was die Menschenrechte überhaupt beinhalten. Westliche Medien neigen dazu, nur die zivilen und politischen Rechte zu den eigentlichen "Menschenrechten" zu zählen. So wird nie ein Staat wegen "Menschenrechtsverletzungen" kritisiert, weil er die wirtschaftlichen oder sozialen Menschenrechte verletzt. Zahlreiche Chinesen, mit denen ich diskutiert habe, kritisierten diesen Punkt explizit, wobei sie von den "fundamentalen" Menschenrechten wie Recht auf Leben, auf Bildung und medizinische Versorgung sprachen, die von den westlichen Medien einfach ignoriert würden.
Ich musste feststellen, das einige Journalisten und Reporter, die ich kenne, auch nicht wussten, dass die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auch zu den eigentlichen Menschenrechten gehören, obwohl alle diesbezüglichen Texte und Erklärungen, die von der internationalen Gemeinschaft im Rahmen der UNO verfasst wurden, in dieser Hinsicht eindeutig sind. Der Westen versucht offensichtlich seit 1950 ganz konsequent, den Begriff der "Menschenrechte" um diesen wichtigen Bereich zu amputieren, siehe dazu den Artikel auf meinem Blog (auf Englisch):
Europa und die Menschenrechte - die Geschichte einer stillen Amputation
Diese Kontroverse hat sicher viel dazu beigetragen, die westlichen Medien in den Augen von vielen Chinesen zu diskreditieren. Obwohl Sie in Ihrem Bericht dem Thema Menschenrechte Duzende von Seiten widmen, wird sie jedoch mit keinem Wort erwähnt. In den ersten zwei Texten (im eigentlichen Forschungsbericht und im Beitrag von Prof. Hafez) wird wie selbstverständlich durchgehend mit der "westlichen, amputierten" Version der Menschenrechte gearbeitet: es wird ausschliesslich von Meinungsfreiheit, Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, Religionsfreiheit usw. gesprochen.
Auch als die Rolle Danhong Zhangs bei der Deutschen Welle diskutiert wird, unter anderem in Bezug auf ihre Aussage, dass "die KP ‹mehr als jede politische Kraft auf der Welt› zur ‹Verwirklichung […] der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beigetragen› habe" (S. 143), wird mit keinem Wort erwähnt, dass es sich hier um unterschiedliche Konzepte der Menschenrechte handelt, wobei die "westliche" ganz klar im Widerspruch zu den grundlegenden Texten steht. Prof. Hafez drückt sogar die westliche Amputierung der Menschenrechte so klar aus, wie man sie selten in den westlichen Medien findet:
Wenn man Menschenrechte als vorstaatliches Gut betrachtet, so ist es, wie oben bereits erwähnt, schwierig, Staat und Bürger als gleichberechtigte Repräsentanten eines Diskurses zu betrachten. Opfer-Täter-Beziehungen können nicht beliebig gedeutet werden, da sie im Grunde klar sind: Der Staat unterdrückt, Menschen werden unterdrückt, nicht umgekehrt. Die Herausforderung für den Journalismus liegt also nicht darin, offiziöse Menschenrechtsverklärungen in die Medien zu heben. (S. 252)
Wenn man die grundlegenden Texte über die Menschenrechte liest, wird sofort klar, dass die Unterdrücker-Unterdrückte-Beziehung nur ein Aspekt der Menschenrechte ist (die sogenannten negativen Rechte). Gleichberechtigt dazu gibt es die "positiven Rechte", wo der Staat eine Verantwortung hat, der Bevölkerung bestimmte Dienstleistungen zu bieten (einen bestimmten Lebensstandard, eine bestimmte soziale Sicherheit, Bildung, Zugang zu medizinischer Versorgung, usw.). Dieser Unterschied ist nicht genau deckungsgleich mit dem Gegensatz zivile und politische gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, aber doch recht ähnlich. Eben diese Einstellung, die darin besteht, dass der Staat in dieser amputierten Version der Menschenrechte jeglicher positive Verantwortung entbunden wird und von vorneherein nur "unterdrücken" kann, ist es, die bei sehr vielen Chinesen auf vehementen Widerstand stösst. Insofern ist der Schluss, den Prof. Hafez aus seinen Betrachtungen zieht, vollkommen absurd:
Der Tiefenschnitt Menschenrechte hat deutlich gemacht, dass die Menschrechtssituation in China heute ein zentrales Thema für konservative, liberale und linke Medien ist. Während Menschenrechte in früheren Jahrzehnten im linken und liberalen Sektor häufig größere Beachtung fanden als im konservativen Pressesektor, in dem Fragen der Staatsräson stärker gewichtet wurden, wird an dieser Stelle ein Trend zur Entideologisierung der Medien deutlich. Menschenrechtsverletzungen wie in China werden heute in den Medien unterschiedlicher weltanschaulicher Prägung kritisiert. Allerdings lassen sich Überbleibsel alter ideologischer Muster dort erkennen, wo etwa konservative deutsche Zeitungen gewisse Fortschritte im chinesischen Rechtssystem stärker beachten als andere. Insgesamt scheint sich aber eine Sichtweise durchgesetzt zu haben, wonach Menschenrechte als vorstaatliches Recht eine höhere Bedeutsamkeit genießen als staatliche Interessen. Dass Menschenrechtsprobleme in China heute Gegenstand der Berichterstattung im gesamten Meinungsspektrum der deutschen Medien sind, lässt sich durchaus als Fortschritt im Bereich des Binnenpluralismus deutscher Medien betrachten. (meine Hervorhebungen).
Wir stehen hier nicht vor einer Entideologisierung der Medien, sondern vor einer derart vollkommen einheitlichen Ideologisierung, dass selbst ein top-ausgebildeter und professioneller Beobachter wie Herr Hafez es nicht einmal bemerkt. Die Amputierung der Menschenrechte ist zu einer alles beherrschenden Ideologie geworden, jede Abweichung wird systematisch als kommunistische Propaganda markiert und somit diskreditiert. Es gibt insofern auch nicht einmal eine Spur von Binnenpluralismus, sondern perfekte Gleichschaltung.
Ich möchte dabei überhaupt nicht kritisieren, dass alle Medien sich um die Menschenrechte kümmern; im Gegenteil, wenn es so wäre, würde mich das glücklich machen. Ich bin durchaus mit Herrn Hafez einverstanden, dass die Menschenrechte als "vorstaatliches Recht" betrachtet werden sollten, dies gehört zu den fundamentalen Prinzipen der Menschenrechte. Damit dies aber irgendwie möglich ist, muss man sich zuerst auf einen allgemein gültigen Begriff der Menschenrechte einigen; dies ist im Rahmen der UNO schon längst geschehen. Erst danach kann man anfangen sich zu fragen, welcher Staat in welchem Masse die Menschenrechte respektiert oder verletzt.
Herr Heberer bringt als einziger ein bisschen Pluralismus in das ganze Buch:
Allgemein gesagt, sind die grundlegenden Menschenrechte qua Geburt universal: nämlich das Recht auf Achtung des Lebens, auf körperliche Unversehrtheit und Schutz vor rassischer oder religiöser Diskriminierung. Dies schließt auch das von China immer wieder betonte Recht auf Sicherung des Existenzminimums ein. (S. 273)
Er spricht auch vom Gegensatz zwischen den "sozialen Rechten", die bestimmte Mittel für ihre Verwirklichung voraussetzen, und anderen Rechten wie dem Schutz vor Folter. Dabei wird jedoch eines offensichtlich: Während wir nach dem Lesen Ihres Buches sehr viel wissen über die Verwirklichung der zivilen und politischen Menschenrechte in China, wissen wir praktisch gar nichts über die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte. Herr Heberer begnügt sich mit ein paar Fragen und Anspielungen:
Doch hohe Wachstumsraten oder eine Entwicklung, die Wohlstand nur für eine Minderheit bringt oder auf Kosten von Bevölkerungsgruppen oder Regionen geht, bringen nicht automatisch soziale Rechte. Das Recht auf Entwicklung und soziale Rechte müssen vielmehr die materiellen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die persönlichen Rechte realisiert werden können. (S. 274)
Ist es so, dass die hohen Wachstumsragen in China nur einer Minderheit Wohlstand bringen? In wieweit geht es auch den ärmsten Bevölkerungsschichten dadurch besser, dass z.B. die nationale Armutsschwelle regelmässig angehoben wird? Wie entwickeln sich die Alphabetisierung und die Kindersterblichkeit? Darauf geht Herr Heberer nicht ein, und auch nicht darauf, wie diese Themen (die ja schliesslich zu den Menschenrechten gehören) in den westlichen Medien dargestellt werden. Das gesamte Thema der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte ist den Autoren des Buches also gerade ein paar (zudem widersprüchliche) Zeilen wert, während die zivilen und politischen Menschenrechte auf Duzenden von Seiten ausführlich behandelt werden. Insofern praktiziert leider auch die gesamte Forschungsarbeit die Amputation der Menschenrechte, die unseren Medien so wichtig ist.
Vor allem jedoch bleibt eine Frage total offen: Wie kommt es, dass Herr Hafez, nachdem er an der Studie massgeblich beteiligt war, wie selbstverständlich von einem Konzept der Menschenrechte ausgeht, das nur das Verbot der Unterdrückung beinhaltet, während Herr Heberer ganz selbstverständlich auch die sozialen Rechte einschliesst? Dieser offensichtliche Widerspruch bleibt einfach so im Raum hängen und wird kaum durch den Hinweis auf verschiedene Deutungsmöglichkeiten gelöst:
«Der Westen», schreibt Michael Pawlik, müsse «mit der Einsicht leben lernen, dass seine Lesart nur eine mögliche, nicht aber die schlechthin zwingende Deutung des Menschenrechtsgedankens darstellt». (S. 275)
Dass die westliche "Lesart" der Menschenrechte eben vielleicht auch problematisch ist und unzählige Chinesen auf eine Aufarbeitung dieser Widersprüche warten, wird nicht einmal erwogen.
Keine Region der Welt darf sich das Recht herausnehmen, einfach bestimmte Rechte oder ganze Bereiche der Menschenrechte einfach wegzuschneiden, und schon lange nicht eine Region wie "der Westen", der als Vorreiter der Menschenrechte gelten will. Wenn man über ein Land wie China berichtet, das nicht zum Europarat gehört, kann man sich einzig und allein auf die Texte stützen, die im Rahmen der UNO ausgearbeitet wurden, und in denen steht überall ganz klar, dass die zivilen und politischen sowie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Dass der Westen solch eine Mühe mit diesem grundlegenden Prinzip hat, ist mir unverständlich, aber dies muss sich ändern, wenn wir nicht einen total unnötigen ideologischen Konflikt mit der chinesischen öffentlichen Meinung entfachen wollen (bzw. den schon längst bestehenden Konflikt lösen wollen).
Dabei geht es mir überhaupt nicht um die Verleugnung von Verstößen gegen die Menschenrechte. Im Gegenteil, wenn unsere Medien aufhören würden, Menschenrechtsverstösse in China zu monieren, wäre das vielleicht der chinesischen Regierung recht. Auch das ist jedoch nicht sicher; schliesslich veröffentlicht sie regelmässig Berichte, wo sie die Menschenrechtsverletzungen in westlichen Ländern moniert. Im Gegensatz zu vielen prominenten China-Verstehern wie Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder habe ich jedoch kein Interesse daran, irgendwie die chinesische Regierung zu verteidigen. Chinesen, die nicht für die Regierung arbeiten (was ich die "chinesische öffentliche Meinung" nenne) wären jedoch entsetzt, wenn unsere Medien sich nicht mehr um die Menschenrechte in China (und anderswo) kümmern würden. Genau wie alle Chinesen, mit denen ich in Kontakt bin, bin ich mir durchaus der massiven Menschenrechtsverletzungen in China bewusst, dies rechtfertigt zweifellos eine Thematisierung.
Auch ich ärgere mich über das, was Sie "offiziöse Menschenrechtsverklärungen" nennen: Es gibt viele "China-Versteher", die im Hinblick auf China zu bedenken geben, dass Deutschland (oder die westlichen Länder im Allgemeinen) auch nicht perfekt sind und sich also nicht als Lehrmeister über China aufspielen sollen. Diese Einstellung ist ganz eindeutig im Widerspruch mit dem Konzept der Menschenrechte, wie er in der UNO ausgearbeitet wurde. Anders als in anderen internationalen Abkommen muss ein Land nicht unbedingt alle Bestimmungen z.B. der Menschenrechtspakte respektieren, um von einem anderen Land deren Respektierung einfordern zu können.
Wenn wir uns jedoch nicht einmal an den Begriff der Menschenrechte halten, so wie er offiziell im Rahmen der UNO definiert wurde, diskreditieren wir die Menschenrechte nur, und eben das muss sich ändern; unter anderem muss dafür die "westliche Lesart" definitiv verschwinden. Es geht auch nicht nur um das "Konzept", sondern darum, dass es ausgeglichen angewendet wird. Unter anderem müssen dafür Verstösse gegen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte genauso hart moniert werden wie Verstösse gegen die zivilen und politischen Rechte, und davon sind wir noch meilenweit entfernt.
Es wäre einfach wünschenswert, dass sowohl unsere Journalisten also auch unsere Medienwissenschaftler einmal die Texte der UN?Menschenrechtscharta lesen würden (Allgemeine Menschenrechtserklärung und die zwei internationalen Pakte sowie zwei Zusatzprotokolle). Ausser der Erklärung, die nicht verbindlich sind und insofern gar nicht ratifiziert werden kann, wurden all diese Texte von allen europäischen Regierungen ratifiziert. Ein mit ihnen kompatibles Konzept der Menschenrechte zu verteidigen gehört somit zu den internationalen Verpflichtungen aller europäischen Länder. Es ist einfach traurig zu sehen, wie wenig dies unseren Journalisten und Wissenschaftlern bedeutet.
Tibet
In Bezug auf die Berichterstattung über Tibet wird die Kontroverse erwähnt, welche die "Unabhängigkeit" Tibets vor 1950 und damit die Rechtmässigkeit des chinesischen Anspruchs auf das Territorium zum Gegenstand hat. So steht auf S. 97: "Ob Tibet ein rechtmäßiger Teil Chinas ist oder nicht – darüber bestehen einige Kontroversen". Die Bewertung der Verarbeitung dieser Informationen durch die Medien wird jedoch extrem schmeichelhaft beschrieben:
[…] dass man in der Bewertung der Rechtmäßigkeit der chinesischen Herrschaft in Tibet mit vielen geschichtlichen Widersprüchen zu kämpfen hat – diese Punkte fallen in einigen untersuchten Beiträgen völlig unter den Tisch. (S. 97, meine Hervorhebung)
Ich habe schon immer zu den recht intensiven Konsumenten westlicher Medien gehört, auch anspruchsvoller Zeitungen wie der NZZ. Als ich jedoch 2005 an einer chinesischen Universität unterrichtete, traf mich bei einer Diskussion über das Thema die einstimmige Überzeugung meiner Studenten, dass Tibet vor 1950 gar nicht unabhängig war und deshalb der "Einmarsch" der chinesischen Armee nicht völkerrechtswidrig war, völlig unvorbereitet.
Ich suchte sofort auf Internet nach einschlägigen Informationen und fand eine Arbeit von Studenten und Assistenten an einer deutschen Universität über den rechtlichen Status Tibets vor 1950, die sogar mit einem Preis ausgezeichnet worden war. Nachdem ich sie gelesen hatte, war ich fuchsteufelswild. In der Arbeit wurde unangefochten die These der Unabhängigkeit verteidigt, mir wurde jedoch nur schon beim einfachen Lesen klar, dass einige der zitierten Quelltexte genau das Gegenteil belegten und dass die Argumentation der Arbeit alles andere als sauber war. 2008 begann ich, mich ausführlich in im Westen erschienenen, von westlichen und tibetischen Historikern geschriebenen Büchern zu dokumentieren, und stiess auf eine Studie nach der anderen die untersuchte, warum die internationale Gemeinschaft damals die de-Fakto-Unabhängigkeit Tibets nicht anerkennen wollte und so die de-Jure-Unabhängigkeit verweigerte. Diesen Argumenten stehen Studien von Juristen gegenüber, die aufgrund von einzelnen Quellen belegen, dass Tibet eben doch de jure unabhängig war.
Diese Kontroverse wird extrem selten in den Medien dargestellt, so dass ich davon überhaupt nicht Wind bekommen hatte, obwohl ich mich schon seit Jahren intensiv für China interessierte und auch davor ein intensiver Medienkonsument war. Der Forschungsbericht schliesst jedoch mit folgendem Fazit:
Dennoch lässt sich in der Gesamtschau der deutschen Medien keine einheitliche Bewertung der Ereignisse oder Interpretation der daraus abzuleitenden Konsequenzen in der Berichterstattung zu Tibet ausmachen, da in allen untersuchten Medien zumindest in Ansätzen auch weniger dominante Sichtweisen der Problemlage und Ursachen mit einfließen.
Es genügt also aus der Sicht der Verfasser des Berichts, wenn in ein paar Artikeln gelegentlich auf die Kontroverse hingewiesen wird, obwohl in einer wahrlich erschlagenden Mehrheit aller Medienbeiträge über Tibet die Unabhängigkeit vor 1950 als unbezweifelbare Tatsache dargestellt wird. Irgendwie wird hier die Messlatte an die Medien doch extrem tief gesetzt.
Umwelt- und Klimapolitik
Im Bereich Umwelt- und Klimapolitik fehlt ebenfalls ein äusserst wichtiger Bereich in derart vollkommenem Masse, dass es niemand zu bemerken scheint. Die gesamte Argumentation, sowohl im Forschungsbericht als auch in den zwei darauf folgenden Beiträgen, konzentriert sich auf die gegenwärtige Umweltsituation in China (auf der negativen Seite) sowie auf die neuere Gesetzgebung, welche diese Probleme beheben sollte (eher auf der positiven Seite).
Jedem, der auch nur mit halbwegs offenen Augen ein paar Tage in China verbringt, springt jedoch sofort ein weiterer Aspekt ins Auge: die Implementierung von alternativen Energien in extrem grossem Massstab. Das erste, was mich wunderte, als ich bei meinem ersten Chinabesuch 2001 von oben auf ein Hausdach herabschaute, waren grosse silberfarbene Zylinder mit daran gekoppelt einer Reihe von ebenfalls silberfarbener Rohren. Als ich meine damalige Frau fragte, was denn das sei, lachte sie zuerst über meine Unwissenheit, dann erklärte sie mir, dass es Solarkollektoren für die Warmwasseraufbereitung seien. Diese Kollektoren stehen auf praktisch allen Hausdächern in China in Reih und Glied und ersetzen direkt CO2-produzierende Energieträger. Ich warte seither vergebens darauf, dass unsere Medien auch nur einen einzigen Bericht darüber bringen. Dass China in bestimmten Bereichen mehr für die Umwelt tut als wir ist ein derartiges Tabu, dass niemand es zu brechen wagt.
Unsere Medien spielen sich gerne als Vertreter der Umwelt auf. Hier hätten sie einen Scoop, der die westlichen Länder dazu anstacheln könnte, eine schon längst vorhandene Technologie in grösserem Massstab anzuwenden. In der Schweiz sind die Dächer zum Verzweifeln leer. In Österreich sind Solarkollektoren weiter verbreitet, bei einer Reise durch einen Teil des Landes Ende 2010 musste ich jedoch feststellen, dass das Land noch einen ernormen Rückstand hat auf den Stand in China mehrere Jahre vorher. Immerhin wird in Deutschland ca. 30% der gesamten verbrauchten Energie für Raumwärme und Warmwasser verbraucht; ein guter Teil davon könnte mit solchen Kollektoren umweltfreundlich erzeugt werden. Unsere Medien beschäftigen sich aber lieber mit futuristischen Projekten als mit bestehenden Technologien, die man nur noch anzuwenden und durch eine geeignete Gesetzgebung zu fördern braucht.
Das gleiche gilt für elektrische Zweiräder. Bei einer Versammlung der Westschweizer Zweigstelle der Schweizerisch-Chinesischen Gesellschaft letztes Jahr hielt der ehemalige Bürgermeister von Zürich eine Rede über Umweltentwicklung in Kunming. Die erste Frage eines der Anwesenden war: Gibt es in Kunming auch so viele elektrische Zweiräder? Die Frage wurde mit Applaus empfangen, was meiner Meinung nach ganz klar darauf hinweist, dass viele Personen, die auch nur kurz in China waren, darauf warten, dass diese durchaus sympathische Technologie im Westen genau wie in China durch eine geeignete Gesetzgebung gefördert wird, anstatt durch allerlei bürokratische Hürden behindert zu werden.
Auch im Bereich Recycling und Biomasse/Biogas hat China einiges vorzuweisen. All diese Themen sind für Westeuropa durchaus relevant und aktuell; sie interessieren auch die Medienkonsumenten. Warum sie systematisch totgeschwiegen werden, ist mir ein Rätsel. Dass "Chinakritiker" davon nichts wissen wollen, ist verständlich. Warum erwähnen aber sogar "China-Versteher" diese Fakten nie? Manchmal habe ich den Eindruck, dass auch sie China nie für voll nehmen, sondern immer nur zum "Verständnis" für ein leider rückständiges und noch recht primitives, aber doch lernfähiges Land aufrufen, für dessen "anders-sein" man eben Verständnis aufbringen müsse. Dass China in irgendeinem Bereich, vor allem im heiklen Thema des Umweltschutzes, in einigen Bereichen mehr tut als wir "umweltbewussten" Westeuropäer scheint für alle Beteiligten so unvorstellbar, dass dieser Gedanke gar nicht erst aufkommen kann.
Infolgedessen haben wir wieder das vollkommene Ausblenden von gesamten Bereichen. Sogar Herr Heberer, der doch unzählige Male in China war, kontrastiert nur die jetzige Lage, die fast durchgehend negativ beschrieben wird, mit neu beschlossenen Massnahmen der Behörden, "wobei zu hoffen bleibt, dass diese Effekte mittelfristig nicht verpuffen" (S. 279). Die Frage ist wieder einmal: Warum sieht kein einziger Journalist und anscheinend auch kein einziger Akademiker, was jedem China-Reisenden sofort auffällt?
Immerhin wird die Berichterstattung der deutschen Medien vor allem im Forschungsbericht als ziemlich einseitig kritisiert:
Den untersuchten Medien gelingt es somit kaum, ein adäquates Bild von der Umweltsituation und der Umweltpolitik in China zu vermitteln. Dies ist umso überraschender, als dass der Klimawandel, seine Ursachen und Lösungsmöglichkeiten in der deutschen Öffentlichkeit ein wichtiges Thema darstellen. Differenziertere Analysen der chinesischen Umweltpolitik beschränken sich auf wenige Beiträge. Diese kommen aber auch in allen untersuchten Medien vor, wobei sich da vor allem die taz hervortut. […] Detailliertere Hintergrundinformationen zu den Ursachen der chinesischen Emissionen oder zur chinesischen Klimapolitik tauchen jedoch kaum auf. Eine fundierte Analyse des chinesischen Energie- oder Transportsektors findet gleichsam nicht statt.(S. 176-177)
Das eigentliche Problem ist jedoch nicht die Abwesenheit von "differenzierten Analysen" oder von "detaillierten Hintergrundinformationen". Die massive Aufreihung von Sonnekollektoren auf allen Hausdächern oder die starke Präsenz von elektrischen Zweirädern kann man auch in einem kurzen Artikel mit einem einzigen aussagekräftigen Foto eindrücklich belegen, und so sicher viel Interesse hervorrufen.
Auch in anderen Bereichen finde ich Ihre wiederholten Aufrufe zu "ausführlichen Analysen" problematisch. Viele Zeitungen kämpfen bekanntlich für ihr finanzielles Überleben. Um ihre Leser zu halten, müssen sie sich doch in grossem Masse an deren Erwartungen halten. Ich bin einfach allgemein nicht davon überzeugt, dass ausführliche Analysen eine bessere Berichterstattung garantieren; ich habe zu viele davon gelesen, die oberflächlich sehr differenziert waren, sich aber auf total falsch dargestellte Daten stützten. Das Problem ist natürlich, dass Sie derartige Probleme mit der von Ihnen gewählten Methodologie überhaupt nicht feststellen können (siehe unten).
Falungong
Diese Sekte wird in Ihrem Bericht zwar nicht wirklich thematisiert, taucht aber doch regelmässig im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen auf. Dabei wird sie systematisch als Opfer der chinesischen Unterdrückung dargestellt. Als solche geistert sie schon seit mehr als 10 Jahren durch die westlichen Medien. Sie wird praktisch immer als eine Art harmlose Yoga-Sekte dargestellt, die von der kommunistischen Regierung zuerst akzeptiert und dann, als sie mehr Mitglieder hatte als letztere, erbarmungslos verfolgt wurde, da sie plötzlich als Rivalin galt.
Unzählige Chinesen versuchen bis heute, unseren Journalisten zu erklären, warum diese Darstellung höchst fragwürdig ist, jedoch ohne Erfolg. Dabei wäre es auch hier ein Leichtes, diesen Einwänden auf den Grund zu gehen.
Die Schriften des Sektengründers Li Hongzhi sind öffentlich auf Internet verfügbar:
Es wird dort recht schnell offensichtlich, dass die Lehren dieser Sekte mit vielen fundamentalen Werten, die sowohl dem Westen als auch China zu Grunde liegen, in Konflikt stehen. Dass ein Mensch von einem Dämonen besessen sein kann, kennen wir auch von der katholischen Kirche. Dass sich Dämonen oder Ausserirdische jedoch in eine Menschengestalt inkarnieren können, so dass wir glauben, einen Menschen vor uns zu haben, dies jedoch nur eine Täuschung ist, läuft jedoch dem Grundprinzip der Menschenrechte zuwider, dass alle Menschen gleich sind (und eben auch echte Menschen sind). Gemäss den Angaben der chinesischen Regierung soll es Fälle gegeben haben, wo ein fanatisches Sektenmitglied jemanden ermordet hat im Glauben, dass es sich um einen solchen Dämonen handelt.
Ebenfalls höchst fragwürdig ist das Gebot der Rassenreinheit. Gemäss dem Sektengründer sind Personen "gemischten Blutes" (z.B. Kinder, die aus einer Mischehe zwischen Weissen und Asiaten hervorgegangen sind) erbärmliche Kreaturen, die nicht nur den Kontakt mit den höheren geistigen Ebenen verloren haben, sondern auch physische oder geistige Schwächen aufweisen.
Zweifellos die grössten Schäden in der chinesischen Gesellschaft hat jedoch die Einstellung des Sektenführers zur medizinischen Behandlung angerichtet. Er betrachtet Krankheit als eine Konsequenz schlechten Karmas, also schlechter Handlungen im Vorleben. Wenn man krank wird, muss man also geduldig leiden und darf zu Linderung nur zu Meditationstechniken greifen. Wenn man sich in ärztliche Behandlung begibt, mogelt man mit dem Karma, und das wird einem später mit Zinseszinsen zurückgezahlt.
Wenn schätzungsweise ein zwanzigstel der Bevölkerung mit einer derartigen Lehre fanatisiert wird, wie dies 1996 der Fall war, kann man sich vorstellen, wie der Rest der Bevölkerung reagiert. Ich habe über dieses Thema mit ca. einem Duzend Chinesen diskutiert. Ungefähr die Hälfte davon konnten aus eigener Erfahrung in ihrem unmittelbaren Umfeld von Fällen berichten, wo ein Sektenmitglied zu extrem schweren Konflikten in der Familie geführt hat. Manchmal war es eine Ehefrau und Mutter, die sich trotz einer lebensbedrohlichen Krankheit weigerte, zum Arzt zu gehen; Eltern oder Grosseltern, die sich plötzlich nicht mehr um die Kinder kümmerten; ein Familienvater, der plötzlich nicht mehr zur Arbeit ging, sich in eine Ecke setzt und den ganzen Tag nur meditierte; ein Sohn, der plötzlich seine Träume für göttliche Gebote hielt und sich von ihnen sein Verhalten diktieren liess.
Zwei Personen, deren Familienmitglied in der Verwaltung tätig war, berichteten davon, dass die Bevölkerung aufgebracht zu den lokalen Zweigstellen der KP strömten und verlangten, dass die Behörden gegen diese Sekte vorgehen müsse.
Jeder Text über die Menschenrechte erlaubt es einem Staat, mit dem Gesetz gegen religiöse Bewegungen vorzugehen, welche die Sicherheit der Bevölkerung gefährden; die Unterdrückung der Sekte wäre in diesem Fall überhaupt kein Verstoss gegen die Religionsfreiheit. Dass Falungong in China zweifellos eine solche Gefahr dargestellt hat, wird jedoch nicht einmal erwogen.
Im Bereich der zivilen und politischen Menschenrechte ist der Europäische Menschenrechtsgerichtshof zweifellos exemplarisch. Auch er akzeptiert jedoch, dass man für den Erhalt der inneren Sicherheit die Religionsfreiheit einschränken kann. Im Fall des Kopftuchverbotes in der Türkei und in Frankreich war er eindeutig der Meinung, dass das Recht auf das Tragen eines Kopftuches in der Religionsfreiheit garantiert wird. Da sowohl die türkische als auch die französische Regierung jedoch überzeugend argumentieren konnten, dass das Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Gebäuden eine Infragestellung der grundlegenden Werte der entsprechenden Ländern und eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellte, war ein Verbot, auch wenn es die Religionsfreiheit einschränkte, durchaus gerechtfertigt. Wenn sogar der Europäische Menschenrechtsgerichthof der Meinung ist, dass Kopftücher tragende Frauen eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellen können, dann kann man die chinesische Regierung nicht kritisieren, wenn sie eine ausserordentlich extremistische Sekte verbietet, die gravierende Schäden in der chinesischen Gesellschaft angerichtet hat.
Ich will damit nicht sagen, dass alles, was mit Anhängern der Falungong-Sekte geschieht, Menschenrechtskonform ist. Es gibt verschiedene Berichte über Verurteilungen von Sektenmitgliedern zu Gefängnisstrafen oder Strafen in Arbeitslagern ohne Gerichtsverfahren. Solche Verletzungen haben jedoch nichts mit der Religionsfreiheit zu tun, sondern verstossen gegen das Recht auf ein gerechtes Gerichtsverfahren.
Dieser Unterschied mag spitzfindig erscheinen, ist jedoch grundlegend. Wenn Sie in dem ganzen Buch regelmässig die Probleme mit Falungong unter "Religionsfreiheit" aufführen, senden Sie an die chinesische Bevölkerung die Message:
"Auch wenn in eurem Land eine Sekte grassiert, die Millionen Familien zerstört, die es auch bei schweren Krankheiten verbietet, dass Erwachsene und Kinder medizinisch behandelt werden, die "gemischtrassische" Ehen verbietet, weil die daraus hervorgehenden Kinder Untermenschen sind, und die gegen die grundlegendsten Prinzipien der Menschenrechte verstösst, müsst ihr diese Sekte im Namen der Religionsfreiheit gewähren lassen."
Dadurch legen Sie den Menschenrechten nicht nur etwas in den Mund, was dort einfach nicht steht, Sie diskreditieren die Menschenrechte insgesamt in den Augen der chinesischen Bevölkerung. Wenn man hingegen nur die Verletzungen gegen den Rechtsstaat moniert, sendet man folgende Message:
"Auch wenn ein Staat die Menschenrechte respektiert, hat er immer noch die Mittel, sich gegen jegliche Gefahr zu wehren, wobei man einfach bestimmte Regeln beachten muss."
Ganz allgemein gibt es mehr als genug Menschenrechtsverletzungen in China, die man auch mit einer guten Kenntnis der Menschenrechte monieren kann, und dies muss auch geschehen. Ich bin der Meinung, dass es wirklich nicht zuviel verlangt ist von den westlichen Journalisten und Akademikern, dass sie sich sorgfältig über die Menschenrechte informieren und mit der nötigen Sachkenntnis arbeiten. Nur so kann man die Menschenrechte weiterbringen; in Ihrem Buch geschieht jedoch leider genau das Gegenteil.
Allgemeine Beurteilung der Medienberichterstattung
Ich kann mir dieses lückenlose Totschweigen von ganzen Bereichen wirklich nicht erklären. Journalisten haben meistens genau wie ich ein geisteswissenschaftliches Studium gemacht. Dort lernt man doch eigentlich, Ansichten zu hinterfragen und Informationen zu suchen.
Weder im Bereich der Menschenrechte noch im konkreten Problem der Falungong-Sekte hat anscheinend je irgendjemand versucht, auf eigene Faust ein paar Informationen zu suchen. Auch die zahllosen Chinesen, welche in diesen Bereichen Bescheid wissen und ständig versuchen, unsere Journalisten aufzuklären, werden einfach systematisch ignoriert. Ich kann dafür nur eine Bezeichnung finden: totale Verachtung für alles, was ein Chinese sagen kann. Ich würde mich natürlich sehr freuen, wenn Sie eine andere Erklärung dafür hätten.
Andererseits möchte ich für diese Probleme doch nicht den westlichen Medien die ganze Schuld zuweisen, und sie schon gar nicht pauschal verurteilen. Ich bin ein intensiver Medienkonsument und habe allgemein in die westlichen Medien Vertrauen. Die Medienwissenschaft sollte (meiner Meinung nach) den Medien klare und gut fundierte Anhaltspunkte geben, wie sie ihre Arbeit verbessern können. Insofern sollte die Medienwissenschaft nicht nur kritisieren, sondern auch konkrete Hilfe leisten. Ausserdem sollte die Arbeit der Medien an ihren eigenen Massstäben gemessen werden, schliesslich kann man den Medien nicht seine eigenen Wertvorstellungen aufzwingen. Des Weiteren sollte man von den Medien nichts verlangen, was ihre wirtschaftliche Überlebensfähigkeit aufs Spiel setzt.
Ich habe Ihre Kritikpunkte an den Medien sehr wohl bemerkt und finde einige von ihnen sogar recht hart. Wenn die Leser bestimmte Vorlieben haben (z.B. kurze Artikel, in denen es vorrangig um Missstände und Machtmissbrauch der Regierung und der Behörden geht), ist es schwierig, von den Medien etwas anderes zu verlangen. Ausführlich Analysen auszuarbeiten ist aufwendig, und wenn diese die Leser zu einem Grossteil überhaupt nicht interessieren, müssen sich die Journalisten sowieso sagen: Ja, die Akademiker haben gut reden, die werden ja vom Steuerzahler dafür bezahlt, dass sie ellenlange Berichte schreiben.
Man kann von den Medien jedoch durchaus verlangen, dass sie ihren eigenen Massstäben genügen. Wenn sie zum Beispiel von sich selber behaupten, dass sie sich für "die Menschenrechte" einzusetzen, kann man sie daran messen. Wenn sie also einen Begriff der Menschenrechte benutzen, der einfach mit nichts übereinstimmt, und dies seit Jahrzehnten schon so geht, ist es durchaus gerechtfertigt, sie dafür zu kritisieren.
Auch werden die Medien immer behaupten, dass sie vielleicht nicht immer neutral sind und sich oft für eine bestimmte Sache einsetzen (z.B. die Menschenrechte oder die Umwelt), dass sie aber immer sachlich genau berichten werden. Gerade bei der Faktengenauigkeit liegt jedoch oft das Problem bei der Chinaberichterstattung, da werden oft jahre- oder jahrzehntelang die gleichen Geschichten erzählt, die mit den verfügbaren soliden Daten einfach nicht übereinstimmen.
Andererseits ist es für Journalisten nicht unbedingt immer zeitlich machbar, sich umfassend zu informieren über die Bereiche, über die sie schreiben. Insofern ist der vorliegende Text vielleicht weitaus kritischer in Bezug auf die Medienwissenschaften und die Sinologie als in Bezug auf die Medien. Wo sind die Forschungsberichte, welche den Menschenrechtsbegriff in den westlichen Medien untersuchen? Oder die Forschungsberichte über die tatsächlichen Anstrengungen Chinas im Bereich Umweltschutz, die auch unsere Medienberichterstattung damit vergleichen? Die Forschungsberichte über die Sekte Falungong, die auch einmal Chinesen zu ihrer persönlichen Erfahrung befragen?
Eine Frage der Methodologie
Insofern muss ich Ihnen leider sagen, dass ich von Ihrer Arbeit gelinde gesagt sehr enttäuscht bin. "Am Boden zerstört" wäre ein besserer Ausdruck. An allen Problembereichen, die für Konfliktstoff zwischen der chinesischen öffentlichen Meinung und unseren Medien gesorgt haben, sind Sie einfach vorbeigerasselt, ohne auch nur etwas zu merken. Dabei bin ich, um mich "kurz" zu fassen, nur auf einige Punkte eingegangen; ich habe noch eine viel grössere Sammlung solcher "Problembereiche" auf Lager (kommt noch).
Dies hängt zweifellos mit der Methodologie zusammen, die Sie gewählt haben. Wie Herr Hafez es (in Bezug auf die Berichterstattung über Tibet) treffend zusammenfasst:
Ob es allerdings noch andere zentrale Argumentationsmuster gibt, die die Medien nicht gewürdigt haben, wird in dem Bericht von Richter und Gebauer insofern nicht reflektiert, als ihre Aufgabe darin bestand, existierende Inhalte der Medien aufzuarbeiten und zu systematisieren. (S. 248)
Die inhaltliche und/oder thematische Analyse der Medien scheint im Moment die vorherrschende (oder sogar alles beherrschende) Methode der Medienforschung zu sein. Beim Ausarbeiten eines Forschungsprojekts ist jeder natürlich frei, eine bestimmte Methodologie zu wählen; man kann Ihnen in diesem Bereich also keinen Vorwurf machen. Von der Methodologie hängt jedoch ab, welche Schlüsse man aus den Forschungsergebnissen ziehen kann. Wenn man sich ausschliesslich auf Medienberichte stützt, kann man in bestimmtem Masse den Pluralismus messen, aber auch nur relativ innerhalb der untersuchten Medien. Man kann also aussagen, ob eine bestimmte Zeitung mehr Binnenpluralismus zulässt als eine andere.
Ob der Pluralismus bestimmten Qualitätsstandards genügt (wie auch immer man diese definieren mag), lässt sich so auf jeden Fall nicht feststellen: Der festgestellte Pluralismus könnte immer noch ein "Scheinpluralismus" sein, wo alle Medien sich über die grundlegenden Parameter einig sind, auch wenn diese eben vielleicht systematisch realitätsfern dargestellt werden, und nur ein "Restpluralismus" übrigbleibt, der dann den Schein erweckt, dass die Sache von verschiedenen Seiten beleuchtet wird.
Vor allem kann man mit einer solchen Methodologie keine Aussage über die Faktengenauigkeit machen. Bei folgender Passage aus der Feder von Herrn Hafez kann man sich nur fragen, worauf sie gestützt ist:
Es lässt sich sicherlich kein generelles Urteil über mangelnde Faktengenauigkeit des deutschen Journalismus bei der China-Berichterstattung fällen, da die Berichterstattung ganz überwiegend unauffällig und korrekt agiert zu haben scheint. Dennoch muss man sich die Frage stellen, ob es nicht an einigen Stellen zu bisweilen gravierenden Verzerrungen von Faktenlagen gekommen ist. (S. 246)
Natürlich kann man mit der von Ihnen gewählten Methodologie einzelne "Verzerrungen der Faktenlage" feststellen, systematische Verzerrungen (siehe meine Beispiele oben) bleiben jedoch gezwungenermassen unentdeckt. Die Ansprüche des gleichen Autors an die Medien sind eindeutig:
Es geht darum, nicht nur die in einem Konflikt geäußerten Meinungen zu kolportieren, sondern Informations- und Meinungsvielfalt an der Sache selbst zu messen. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der Aufgabe eines Journalismus, der sich um die Meinungsbildung der Bürger bemüht. Natürlich gilt, was Elisabeth Noelle-Neumann in den 1990er Jahren über den Mangel an außenpolitischen Debatten in Deutschland sagte, auch heute noch […]. (S. 249)
Wer unter den heutigen Medienforschern hält sich aber an diesen Rat? Ich sammle seit Jahren Daten über die Probleme in der westlichen Medienberichterstattung über China, habe aber leider den Eindruck, dass ich der einzige auf der Welt bin. Wer unter den Medienwissenschaftlern misst die Produktion der Medien "an der Sache selbst"? Es geht dabei nicht irgendwie darum, den "Wahrheitsgehalt" zu messen. "an der Sache selbst messen" lässt sich wohl am besten mit dem Konzept der Falsifizierung realisieren. Es geht also einfach darum, solide Daten zu sammeln und die verschiedenen Beiträge unserer Medien damit zu konfrontieren.
Eine weitere Frage, die sich die Medienwissenschaft stellen muss, ist die Frage der Rezeption bei den Medienkonsumenten. Welchen Einfluss hat es auf die Meinung der Konsumenten, wenn sie ständig mit Schlagwörtern konfrontiert werden wie dem "Einmarsch der chinesischen Armee in Tibet" und der "Besetzung Tibets" und dann (mit viel Glück) ab und zu einen vertiefenden Artikel lesen, wo ein Sinologe das Ganze relativiert? Wird seine Argumentation nicht einfach als "Produkt eines China-Verstehers" abgetan? Die gleiche Frage muss man sich bei den Menschenrechten stellen: wenn ab und zu ein Sinologe darauf hinweist, dass die sozialen Rechte "auch" zu den Menschenrechten gehören, während dies anderswo durchwegs als das "chinesische Konzept der Menschenrechte" abgetan wird, was bleibt dann in den Köpfen der Konsumenten hängen?
Ihr Bericht über die deutsche Berichterstattung über China ist leider zu einem grossen Teil (im Forschungsbericht und im Beitrag von Herrn Hafez) ein Produkt einer Lehnstuhlmedienwissenschaft: man bleibt im Elfenbeinturm sitzen, lässt sich ein paar Zeitungen bringen und fängt mit seiner Analysearbeit an.
Zumindest von Herrn Hafez und Herrn Heberer weiss ich sehr wohl, dass sie viel reisen und vor Ort Daten sammeln. Vor allem Herr Heberer kennt China sehr gut, dies fliesst auch hochgradig in seinen Beitrag ein. Dabei wird vor allem für Offenheit im Umgang mit einer anderen Kultur geworben. Die Kritik der deutschen Medien bleibt jedoch oft extrem abstrakt:
Medien sind von daher auch – um mit Max Weber zu sprechen – nicht nur einer Gesinnungsethik verpflichtet, die eigene Werte und Prinzipien vorträgt und in den Vordergrund stellt, sondern auch einer Verantwortungsethik, bei der die Folgen und Kosten von Berichterstattung berücksichtigt werden und die demgemäß umsichtige Urteile erfordert. (S. 287)
Was waren denn konkret die "Folgen und Kosten" der westlichen Berichterstattung über China 2008? In dem ganzen Buch steht davon kein Wort. Wenn die Medien diesen Faktor berücksichtigen sollen, sollten die Medienwissenschaftler es auch tun. Ich habe diese Folgen persönlich miterlebt, und sie sind einer der Gründe, weshalb ich aktiv wurde. Ich musste ansehen, wie praktisch die gesamte chinesische Gemeinschaft der Westschweiz zusammenrückte, um geschlossen den westlichen Medien entgegenzutreten.
Darunter waren nicht nur vor kurzem erst aus China gekommene, "kommunismustreue" Studenten, sondern auch Chinese, die schon 10 oder 20 Jahre in der Schweiz lebten und dem kommunistischen Regime extrem kritisch gegenüberstehen. Dass es unsere Medien geschafft haben, praktisch die gesamte Bevölkerung Chinas gegen sich aufzubringen, finde ich gelinde gesagt ein Desaster.
Dies scheint mir ein wesentlicher Faktor des ganzen Themas zu sein und ich verstehe nicht, warum es im Rahmen Ihres umfangreichen Forschungsprojekts nicht möglich war, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Natürlich hätten dann in Ihrem Buch auch Chinesen zu Wort kommen müssen, aber dies schien ja nicht vorgesehen zu sein…
Ich hoffe, dass Sie sich nicht an dem Wort "Lehnstuhlmedienwissenschaft" stossen, aber es ist einfach so, dass man die gravierendsten Probleme nur aufdecken kann, wenn man Chinesen, die ja ihr Land aus eigener Erfahrung kennen, nach ihren Reaktionen auf die westliche Berichterstattung fragt. Wie soll z.B. jemand, der in seinem Umfeld ständig mit der "westlichen Lesart der Menschenrechte" konfrontiert ist, auch nur auf die Idee kommen, die massgebenden Texte durchzulesen und sich in der Fachliteratur darüber zu informieren? Das gleiche gilt in Bezug auf die Falungong-Sekte, wo es meines Wissens keine im Westen zugängliche Fachliteratur gibt, die sich auf Zeugenaussagen der chinesischen Bevölkerung stützt.
Mir ist nicht entgangen, dass im Rahmen des Projekts zig-tausend Artikel analysiert wurden. Auch im Lehnstuhl kann man fleissig sein. Ich finde es jedoch extrem fragwürdig, dass nicht nur unsere Medien, sondern auch die Medienwissenschaftler die chinesische Bevölkerung praktisch nie zu Wort kommen lassen.
Die Methodologie, die darin besteht, sich auf die Medien zu stützen um ihre Leistung abzuwägen, ist aufgrund der oben genannten Argumente höchst problematisch, insofern ist der (zugegebenermassen leicht abwertende) Begriff "Lehnstuhlmedienwissenschaft" für einen grossen Teil des Buches durchaus angepasst, da er ja auch sinngemäss zutrifft.
Um eine Konsequenz Ihrer Methodologie im Bereich "zu Wort kommen lassen" zu illustrieren: Der Forschungsbericht schliesst auf eine "recht häufige" Präsenz von "nichtorganisierten Gruppen bzw. Einzelpersonen" in der deutschen Berichterstattung:
Schließlich wird insgesamt noch recht häufig auf nichtorganisierte Gruppen bzw. Einzelpersonen ohne institutionellen Zusammenhang verwiesen. Dabei ist auffällig, dass diese oft als Kollektivbegriffe für wenig spezifizierte, eher passive Handlungsträger verwendeten Bezeichnungen kaum bei westlichen Akteuren zum Tragen kommen, aber in recht hohem Maße zur Charakterisierung chinesischer (in 16,1% aller Beiträge) und auch tibetischer (in 6,0% aller Beiträge) Handlungsträger genutzt werden. […] Hier erfolgen teilweise stereotypisierende Verallgemeinerungen, die den Blick auf mögliche differierende Interessen verstellen können. (S. 81, meine Hervorhebung)
Wie ist es dann möglich, dass von allen Chinesen, mit denen ich über ihre Meinung über die westlichen Medien und ihre Berichterstattung über China gesprochen habe, höchstens 1-2 eine vorsichtig positive Meinung geäussert haben, eine wahrlich überwältigende Mehrheit jedoch eine stark negative Meinung hatten? Der Hauptgrund liegt anscheinend darin, dass sie ihre Ansichten über das heutige China, das sie ja selber erlebt haben, in unseren Medien einfach nicht wiederfinden. Es geht hier eben überhaupt nicht um "stereotypisierende Verallgemeinerungen, die den Blick auf mögliche differierende Interessen verstellen können", sondern darum, praktisch niemand unter den angeblichen Quellen sich vertreten fühlt. Einen möglichen Erklärungsansatz dafür gibt folgende Stelle:
Weiterhin ist aber insbesondere der Zugang zu hochrangigen Quellen, aber auch zu einfachen Leuten schwierig, Reisen in die autonome Region Tibet sind stark eingeschränkt und gerade im Vorfeld von Olympia empfanden die Korrespondenten sich und ihre Arbeit unter ungerechtfertigtem Beschuss seitens der chinesischen Öffentlichkeit. (S. 220)
Schwieriger Zugang zu "einfachen Leuten"? Ich war auch nur einfach eine Person aus dem Westen in China und hatte dort verschiedene Funktionen inne. Ich konnte überall recht einfach Leute kennenlernen und mit ihnen eine genügend starke Vertrauensbeziehung aufbauen, dass ich mit ihnen über alle möglichen Themen, einschliesslich sensible Themen wie Tibet, Taiwan, Menschenrechte, Korruption, Demokratie, soziale Probleme usw. diskutieren konnte. Ich kenne auch viele andere Europäer, die in China ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Auch vor 2008 schon konnten sich Medienvertreter zumindest in Beijing frei bewegen und dort mit ganz normalen Personen Bekanntschaft machen. Eine Journalistin, die für eine bekannte Schweizer Zeitung 2007-2008 nach Peking reiste, hat dort sogar in der Familie eines in Deutschland lebenden chinesischen Kollegen gewohnt, und so wertvolle Einsichten in die Ansichten der Bevölkerung gewonnen. Nachdem sie zurückkam, war sie der westlichen Berichterstattung plötzlich extrem kritisch gegenüber eingestellt. Da sie dann aber kaum mehr über China schrieb, das von Anfang an nicht ihr Fachgebiet war, hatte dies leider keinen Einfluss.
Anstatt auf den offensichtlich mangelnden Kontakt der Chinakorrespondenten mit "einfachen Chinesen" hinzuweisen, wird das Problem verlagert:
Das Grundproblem sieht Jochen Graebert in der systemimmanenten Verschlossenheit der chinesischen Führung […] (S. 221)
Dieser Satz steht unmittelbar unter der oben zitierten Passage und verlagert die Diskussion auf die Unzugänglichkeit der Entscheidungsträger.
Eine andere Frage allerdings ist, ob die in deutschen Medien präsentierten Aktivisten und Dissidenten in jedem Fall legitime Repräsentanten der Opfer sind. Auch deutsche Journalisten haben bereits eingeräumt, dass beim Thema China immer derselbe kleine Kreis von Dissidenten in deutschen Medien auftaucht. Also liegt eine mögliche Verzerrung deutscher China-Berichterstattung möglicherweise nicht darin, staatliche Stimmen im Bereich der Menschenrechtsdebatte verschwiegen, sondern «die falschen Dissidenten» gesucht zu haben? […] Die Studie von Richter und Gebauer hat keinen parallelen Fall [zu Ahmed Chalabi] für China aufdecken können, aber verweist sie im Grunde prophylaktisch auf mögliche Voreingenommenheiten, die aus einer Konstellation entstehen können, wobei ein sehr begrenzter Kreis von Dissidenten eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden Chinesen repräsentiert. (s. 252, meine Hervorhebung)
Warum muss man denn unbedingt "Dissidenten" suchen? Warum kann man nicht ganz einfach eine Stichprobe unter diesen 1.3 Milliarden Chinesen nehmen und sich dafür interessieren, was sie denken? Eine Meinungsumfrage ist viel einfacher, als was man allgemein denkt. Wenn man eine Unsicherheit von 3% will (wie dies meist in veröffentlichten Meinungsumfragen angestrebt wird), braucht man eine Stichprobe von 1000 Personen; für einen Journalisten unmöglich. Mit einer Stichprobe von nur 10 Personen hat man jedoch schon eine Unsicherheit von ca. 30% (je nach Verhältnis der Antworten). Dies kann in vielen Fällen schon ausreichen, um bestimmte vorsichtige Aussagen zu machen.
Denn eine Grundfrage müssen sich die Medien und die Medienwissenschaft doch einmal stellen, auch wenn die Antwort schmerzhaft sein kann: Warum gerieten die westlichen Medien 2008 (und auch noch jetzt) unter "Beschuss seitens der chinesischen Öffentlichkeit"? Haben die Mitglieder der "chinesische Öffentlichkeit" einfach nicht verstanden, dass die westlichen Medien sie gegen die kommunistischen Machthaber verteidigen? Oder gibt es Gründe für diese Haltung? Wenn ja, welche?
Egal, was unsere Medien erreichen wollen, eines sollte doch feststehen: sie werden nur etwas erreichen, wenn möglichst viele Chinesen ihnen vertrauen. Wenn dies nicht so ist (und eben dies scheint heute der Fall zu sein), dient jede Kritik am kommunistischen Regime nur unserer Selbstbefriedigung, wird aber vor Ort nichts ändern, sondern vielleicht nur das Gegenteil bewirken. Die Lehnstuhlmedienwissenschaft kann auf diese extrem wichtige Frage jedoch keine Antwort geben, und dementsprechend wird sie nicht einmal gestellt, weder in Ihrem Buch noch in irgendeinem anderen Medien- oder Forschungsbericht, den ich in den vergangenen Jahren ausfindig machen konnte.
Verstehen Sie mich richtig: dies ist überhaupt keine Kritik an der mühseligen und notwendigen Arbeit, die darin besteht, tausende von Medienberichten zu analysieren. Ich arbeite auch viel im "Lehnstuhl". Als "Lehnstuhlmedienwissenschaft" bezeichne ich es hier, wenn man 1.3 Milliarden Menschen, die von dem Thema direkt betroffen sind, in einem grossen Forschungsprojekt (und leider nicht nur dort) nicht ein einziges Mal zu Wort kommen lässt.
Somit komme ich zu meinem letzten Punkt. Wie schon eingangs erwähnt, glaube ich doch, davon ausgehen zu dürfen, dass Ihr Forschungsprojekt eine Reaktion auf die chinesische Kritik an der westlichen Berichterstattung war. Insofern ist Ihre Arbeit auch Teil eines (aussen)politischen Problems.
Wenn ich nun überlege, wie so ein politisches Problem anders angegangen werden könnte, kommt natürlich das Wort "Untersuchungsausschuss" in den Sinn. So weit kann es in diesem Kontext natürlich nicht kommen, die chinesische Regierung hat dafür viel zu wenig Macht. Nehmen wir aber einmal an, dass es dazu gekommen wäre. So ein Ausschuss, egal in welchem Rahmen, hätte selbstverständlich alle Seiten angehört und wäre dann nach vielem hin und her zu einem Schluss gekommen.
Nun muss ich leider feststellen, dass das, was für einen politischen Untersuchungsausschuss selbstverständlich ist, für ein wissenschaftliches Forschungsprojekt anscheinend nicht gilt, und zwar, dass man alle Seiten anhört. Mir ist selbstverständlich klar, dass vor allem Herr Heberer zu diesem Thema viele Bemerkungen von Chinesen gehört haben muss. Diese werden aber nie irgendwie thematisiert, ausser in der Form des pauschalen Vorwurfs, dass die westlichen Medien "gegen China voreingenommen" oder "nicht ausgeglichen berichten würden". Diese Aussagen werden auch nur indirekt wiedergegeben. Ich persönlich habe von Chinesen viel differenziertere Kritiken gehört, wie schon eingangs erwähnt.
All dies erweckt leider den Eindruck, dass Ihr ganzes Projekt von vorneherein so aufgezogen war, dass es nur zu einem bestimmten Schluss kommen konnte: Die deutschen Medien haben ihre Arbeit im grossen und ganzen gut gemacht, es gab aber vereinzelte Probleme. Sowohl die Methodologie, die von vorneherein ausschloss, dass systematische Fehlinformationen aufgedeckt werden können, als auch die Entscheidung, nur die Vertreter der westlichen Medien zu Wort kommen zu lassen, erwecken einfach den Eindruck eines von vorneherein geplanten "whitewash".
Ich weiss natürlich, dass dies nicht Ihre Absicht war, und würde mich sehr freuen, Ihre Reaktion auf meine Argumente zu hören.
Mit freundlichen Grüssen
Otto Kölbl