470'000 Tote wegen Umweltverschmutzung in China pro Jahr – ein zu hoher Preis für die Industrialisierung?
Die Umweltverschmutzung in ihren verschiedenen Formen ist ein grosses Problem in China. Sie wird von einer schnellen Industrialisierung verursacht, die sich oft kaum um die Umwelt gekümmert hat. Bevor wir jedoch die Industrie pauschal verurteilen, müssen wir uns den menschlichen Fortschritt vor Augen halten, den sie erlaubt hat.
Manche Chinesen tragen Gesichtsmasken gegen Staub und Luftverschmutzung. Foto: World Bank. |
Wir haben alle schon Bilder von in Smog gehüllten chinesischen Städten gesehen, wo die Sonne nur noch eine milchige Scheibe in einem grauen Himmel ist. Die Luftverschmutzung ist nicht nur unschön, sie ist oft auch tödlich. Gemäss einer Studie der Weltbank hat sich die Luftqualität in den chinesischen Städten in den letzten 25 Jahren verbessert und die Menge Energie, die nötig ist, um eine Einheit des Bruttoinlandprodukts zu erzeugen, hat stark abgenommen. Trotz dieses Fortschritts verursacht die Luftverschmutzung der Atmosphäre allein jedes Jahr 400'000 vorzeitige Todesfälle (für die Ergebnisse, siehe den Brief status report). Sie kostet jeden Einwohner im Durchschnitt 2-4 Monate seines Lebens. Die Wasserverschmutzung tötet jedes Jahr weitere 70'000 Menschen. Wie ist es möglich, dass die Chinesen nicht mehr dagegen unternehmen?
Wenn diese Zahlen in den westlichen Medien zitiert werden, werden sie nie mit den entsprechenden Daten für die westlichen Länder verglichen, und zwar aus einem guten Grund. Gemäss den offiziellen Angaben der Europäischen Union verursacht die Luftverschmutzung dort den vorzeitigen Tod von 370'000 Menschen pro Jahr, also leicht weniger als in China, aber für eine Bevölkerung von 500 Millionen gegen 1.3 Millionen in China… Dies entspricht einer durchschnittlichen Verkürzung der Lebenserwartung von 8 Monaten. Wie kommt es, dass die europäische Luftverschmutzung tödlicher ist als die chinesische?
Der in vielen chinesischen Städten sichtbare Smog besteht zu einem grossen Teil aus Staub und aus Schwefeldioxydpartikeln. Der Staub kommt von den Wüsten im Norden des Landes, von den zahlreichen Baustellen und von den Strassen, die oft nicht geteert sondern betoniert sind, so dass jedes vorbeifahrende Fahrzeug viel Staub aufwirbelt. Das Schwefeldioxyd kommt von den kohlebetriebenen Kraftwerken; er irritiert unsere Atemwege und ist sehr schädlich für die Pflanzen ("saurer Regen"), verursacht aber nur wenige Todesfälle beim Menschen.
Die tödlichste Form der Luftverschmutzung ist der Feinstaub, kleine Russpartikel, die von Verbrennungsmotoren, vor allem von Dieselmotoren, ausgestossen werden. Die europäischen Fahrzeuge mögen "sauberer" sein als die chinesischen; unsere 500 Fahrzeuge pro 1000 Einwohner verschmutzen eben doch mehr als die 33 Fahrzeuge pro 1000 Einwohner, die China 2007 aufwies.
Ein anderer Faktor trägt sicher dazu bei, die Anzahl der Todesfälle wegen der Luftverschmutzung in China zu reduzieren: Auch wenn die Lebenserwartung in China seit der Machtergreifung von Mao Zedong spektakulär angestiegen ist, ist sie doch noch erheblich tiefer als in Europa. Wahrscheinlich ist die Luftverschmutzung vor allem für alte Leute eine tödliche Gefahr. Eine ähnliche oder sogar schlimmere Verschmutzung in China tötet dort also verhältnismässig weniger Leute als in den westlichen Ländern.
Wenn die Luftverschmutzung in China also weniger tödlich ist als in Europa, beeinträchtigt sie doch die Lebensqualität erheblich mehr als im Westen. Viele Europäer, die in China ankommen, erwischen sofort einen chronischen Schnupfen oder Husten, den sie manchmal erst loswerden, wenn sie das Land wieder verlassen. Die Chinesen sind an die Verschmutzung besser gewöhnt, leider aber ebenfalls darunter.
Ist der Preis, der für die Industrialisierung zu zahlen ist, also zu hoch? Anstatt nur die Opfer zu zählen, sollten wir auch die geretteten Leben mit einbeziehen. Ohne die Industrialisierung der sechs letzten Jahrzehnte wäre China zweifellos ein sehr armes Land geblieben.
Die sehr hohe Bevölkerungsdichte erlaubt es nicht, nur mit der Landwirtschaft einen hohen Lebensstandard zu erreichen. Für ein so grosses Land können der exportorientierte Dienstleistungssektor und der Tourismus kaum eine erhebliche Rolle spielen. Das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukt würde also USD 1000.- kaum übersteigen können, dies entspricht einem relativ armen afrikanischen Land.
Selbst im Idealfall, wo die Regierung optimale Anstrengungen gemacht hätte, um den Zugang zur medizinischen Versorgung zu verbessern, wäre mit solch einem Lebensstandard die Kindersterblichkeit bei 43‰ anstatt des tatsächlichen Wertes von 16.6‰ (für die Methodologie, auf dies sich diese Zahl stützt, siehe unseren Artikel Das Recht auf Gesundheit - Wie kann man Regierungen zur Rechenschaft ziehen?). Dann würden jedes Jahr 380'000 Babys mehr sterben im Vergleich zur jetzigen Lage. Dazu kämen noch viel mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die ganz einfach wegen dem Elend sterben würden, aus dem ihnen die Landwirtschaft keinen Ausweg bietet.
Vor der Industrialisierung im grossen Massstab, die mit Mao Zedong 1949 begann, betrug die Lebenserwartung in China 36 Jahre; heute ist sie auf 73 Jahre angestiegen. Vergleichen Sie dies mit den 2-4 Monaten des Lebens, das die Luftverschmutzung der Atmosphäre im Durchschnitt jeden Chinesen kostet, und Sie werden verstehen, warum sie die Industrialisierung gewählt haben.
Je weiter der Lebensstandard ansteigt, desto wichtiger werden jedoch der tägliche Komfort und die Umwelt in den Augen der Bevölkerung. Umweltschutzbewegungen spielen eine immer grössere Rolle, und das kommunistische Regime weiss, dass es in diesem Bereich positive Ergebnisse aufweisen muss. Der Himmel wird in den chinesischen Städten sicher allmählich wieder blau. Gemäss verschiedenen Quellen hat diese Entwicklung schon begonnen, vor allem in der Hauptstadt Peking.