Sind die Chinesen wirklich rot-gelbe Ameisen?
Otto Kolbl
Die Chinesen werden in den Medien oft als arbeitsame, disziplinierte und gehorsame Leute mit ausgeprägtem Gemeinschaftssinn beschrieben. Dieses Bild der Chinesen macht uns Angst: wenn sie disziplinierter und fleissiger sind als wir, können sie "stärker" werden als wir. Wenn sie so gehorsam sind, können sie leicht von einer Diktatur missbraucht werden für einen Kampf gegen unsere Werte, die sie gar nicht kennen. Sobald man jedoch Fuss auf chinesischen Boden setzt, wird es plötzlich schwierig, dieses vorgefasste Bild mit dem zu vereinbaren, was man selbst erlebt.
Das Erste, was mir bei meiner ersten Ankunft in China auffiel, war der Strassenverkehr. Er ist meistens recht flüssig, Staus sind ein bisschen seltener als auf den Schweizer Strassen. Auffallend ist jedoch der Mangel an Disziplin. Den Vordermann auf jede mögliche Weise zu überholen scheint Nationalsport zu sein. Dies kann auf der Autobahn zu einem Überholzyklus führen, bei dem sich zwei oder drei PKWs gegenseitig wiederholt überholen, um so die beste Ausgangsposition zu ergattern, sobald die Überholspur wieder frei ist. Verkehrsregeln scheinen unbekannt und werden durch eine Mischung von Recht des Stärkeren und Ich war zuerst da ersetzt.
Wie kann es sein, dass die für ihre Disziplin bekannten Chinesen so chaotisch fahren? Hängt es damit zusammen, dass sie nicht so eine lange Erfahrung mit dichtem Verkehr haben wie wir?
Die Benutzung von Mobiltelefonen erlaubt hier einen besseren Vergleich. Im Gegensatz zu Autos wurden Mobiltelefone in China zur gleichen Zeit populär wie in der Schweiz, gegen Ende der 90er Jahre. Während hier die neue Kommunikationsfreiheit schnell von Regeln eingeschränkt wurde, werden Mobiltelefone in China jederzeit und überall intensiv benutzt. Wenn Sie einen gerade in der Schweiz eingetroffenen Chinesen auf Natelverbotsschilder in Postämtern aufmerksam machen, ernten Sie garantiert einen Lachanfall.
In zahlreichen anderen Bereichen ist das Leben in China erheblich weniger reglementiert als in Europa. Bei Tisch gibt es natürlich Gewohnheiten, aber keine Regeln. In Europa kann man noch heute den sozialen Ursprung einer Person an ihren Tischsitten ablesen. In China habe ich sowohl mit Fabrikarbeitern als auch mit hohen Beamten gegessen, sie essen einfach alle gleich. Hier hat der Kommunismus gründlich aufgeräumt. Als Ausländer ist man dafür natürlich dankbar: da man die lokalen Regeln und Sitten nicht kennt, erspart einem ihre Abwesenheit zahlreiche Blamagen.
Je mehr Zeit ich in China verbracht habe, desto stärker wurde meine Überzeugung, dass wir Europäer einen inneren Drang zur sozialen Reglementierung und Vereinheitlichung haben, der den Chinesen anscheinend vollkommen fremd ist. Sind die Chinesen also nicht die rot-gelben Ameisen, die man ihnen nachsagt? Oder ist dieses Ameisensein nur Geschichte und nicht mehr aktuell, weil sie sich doch langsam modernisieren oder verwestlichen?
Man zeigt uns oft Bilder von Kampfkunstschulen, wo Hunderte von Schülern in perfekter Synchronisierung die Luft zu Kleinholz schlagen. Dies gehört jedoch nicht zur traditionellen asiatischen Kultur. Kampfkünste wurden früher nur in kleinen Gruppen praktiziert, wo der Meister von einem Schüler zum anderen ging und ihnen einzeln Ratschläge erteilte oder ihre Technik verbesserte. Wenn man sich heute ein Judo- oder Kendo-Training ansieht, sieht man keine derartigen synchronen Bewegungen, es überwiegt ein Eindruck der Unordnung.
Das perfekt geordnete Schauspiel, das heute die meisten Karate- und viele Kung-Fu-Schulen bieten, kann auf die preussische Armee zurückgeführt werden. Nachdem Japan 1868 von der amerikanischen Marine gedemütigt worden war, beschloss die japanische Regierung, das Land zu modernisieren, um in Zukunft den westlichen Kolonialmächten standhalten zu können. Sie lud dafür Spezialisten von verschiedenen westlichen Ländern ein. Für die militärische Ausbildung wählte sie die preussische Armee, die den Japanern das Exerzieren beibrachte.
Sportunterricht gab es damals nicht in den ostasiatischen Schulen. Japan und später China wollten nicht verwestlicht werden, betrachteten Sportunterricht aber aus militärischen Überlegungen als unabdingbar. Beide Länder besannen sich auf ihre traditionellen "Sportarten", die Kampfkünste, mussten sie aber an den Massenunterricht anpassen. So wurden die preussischen Drillmethoden auf die traditionellen Kampfkünste aufgepflastert und fanden Eingang in den obligatorischen Sportunterricht.
Die preussische Militärkultur am Werk. Die Personen wurden unkenntlich gemacht, um den Verfasser nicht unnötig in Gefahr zu bringen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel der europäischen und asiatischen Kultur, die Musik. In Europa, egal ob beim Oktoberfest oder in einem Kirchenchor, wird das Singen oft in grossen Gruppen praktiziert, wo Duzende oder Hunderte von Sängern wie eine Stimme singen. Dies ist der asiatischen Kultur vollkommen fremd, wo Singen vor allem in der Form von Karaoke auftritt: Ein oder höchstens zwei Sänger zeigen den Anwesenden, was sie im Repertoire haben.
Wie kommt es dann, dass die Medien uns rot-gelbe Ameisen zeigen? Die Chinesen wissen sehr wohl, dass ihr Individualismus und ihr Mangels an Disziplin schon immer ihr grösster Schwachpunkt war. Dies fiel vor allem im Krieg gegen die westlichen Kolonialmächte und gegen die japanische Armee (1931 bis 1945) ins Gewicht, die vom Westen gelernt hatte, wie man das ganze Volk hinter einem Kaiser eint. China wählte sich also eine Ideologie, den Kommunismus, vom dem sie sich erhoffte, dass er den Chinesen ein Minimum an Gemeinschaftssinn einflössen könne. Es ist schon ironisch, dass China die Ideologie von Karl Marx, einem Deutschen, gewählt hat, um sich gegen die von Japan gewählte preussische Militärkultur zu wehren. Wahrscheinlich wäre diese Region auch heute noch erheblich friedlicher, wenn der Westen seine Hände davon gelassen hätte.
Auch wenn der Krieg zwischen China und Japan der Vergangenheit angehört, werfen Individualismus und Mangel an Disziplin noch immer grosse Probleme auf. Eine Person aus China, der ich einen grossen Teil meiner Kenntnisse über China verdanke, hat mir einmal die Geschichte von Wenzhou erklärt, einer Stadt ca. 400 Km südlich von Shanghai. Die Region hatte eine lange Tradition in der Herstellung von Lederwaren. In den 80er Jahren, zur Zeit der wirtschaftlichen Liberalisierung, wurde die Herstellung industrialisiert. Die Stadt exportierte bald in das restliche China und ins Ausland. Die Qualität der Produkte sank jedoch rapide. Nach ein paar Jahren produzierten einige Fabriken wunderschöne Schuhe, die wie aus echtem Leder aussahen, sich jedoch beim ersten Regen auflösten, da sie aus Karton hergestellt waren. Die Person, die mir die Geschichte erzählte, kommentierte das mit: "Chinesen sind echt stark!" Der Ruf von Lederwaren aus Wenzhou sank in den Keller. Daraufhin erliess die lokale kommunistische Partei strikte Qualitätsregeln und setzte sie kompromisslos durch, wonach Wenzhous Waren wieder grossen Absatz fanden.
Diese Geschichte illustriert gut die Beziehung, welche die Chinesen mit ihrer kommunistischen Partei verbindet. Sie sind so individualistisch, flexibel und erfinderisch, dass dies der Gemeinschaft schaden kann, und sie wissen es. Sie brauchen also die Ideologie und die Autorität der kommunistischen Partei, um sich vor sich selbst zu schützen. Ein Vergleich mit der Schweiz kann dies deutlich machen: Musste die Schweizer Regierung eingreifen und Qualitätsregeln erlassen, um den Ruf der Schweizer Uhrenindustrie zu bewahren? Also brauchen wir in der Schweiz kein kommunistisches Regime. Wir brauchen vielmehr eine liberale Ideologie, die uns vor dem erdrückenden Gewicht unserer Gesellschaft und ihrer zahlreichen Regeln schützt.
Dieser Konflikt zwischen sozialer Realität und Ideologie findet in unseren Medien seinen Ausdruck. Sie zeigen uns Bilder von chinesischen Athleten, die schön parteigetreu erklären, dass sie all ihre Anstrengungen dem Ruhm der Partei widmen. Das kommunistische Regime selbst will, dass wir diese Bilder sehen, realisiert aber nicht, welchen Schaden diese Bilder im Westen anrichten: Anstatt bei uns Bewunderung hervorzurufen, ersticken sie jede Sympathie, die wir für diese Athleten empfinden könnten, und machen uns Angst.
Die Kommunikation zwischen dem Westen und China ist am absoluten Nullpunkt angelangt. Ich spreche nicht von der Kommunikation zwischen den Regierungen, sondern zwischen der Bevölkerung der betroffenen Länder. Heutzutage darf man in Europa nur noch negativ von China sprechen. Die Chinesen, welche die Berichterstattung in den westlichen Medien verfolgen, sind schwer enttäuscht von dem, was sie sehen, während sie vor kurzer Zeit die westlichen Medien noch als viel objektiver, ausgeglichener und vertrauenswürdiger betrachteten als die chinesischen Medien.
Um aus dieser Sackgasse herauszufinden sind Anstrengungen auf beiden Seiten nötig. Die westlichen Medien müssen versuchen, über die ungeschickte Propaganda des kommunistischen Regimes hinauszusehen. Die Chinesen sollten diese Anstrengungen unterstützen und sich den westlichen Medien so zeigen, wie sie sind: individualistisch, offen, undiszipliniert, flexibel und kreativ. Ich kenne zahlreiche Europäer, die in China gelebt haben. Sie hatten die Chance, die Chinesen so kennen zu lernen, wie sie sind, in China, dem Land, das sie entsprechend ihrem Lebensstil geschaffen haben. Alle haben China und seine Bevölkerung in ihr Herz geschlossen.