Re: ༸在中国做记者༸
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Otto Kölbl
Peter A. Fischer (Kürzel "pfi") ist seit 2007 Aulandskorrespondent der NZZ in China, zuvor war er in Russland in der gleichen Funktion tätig. Anlässlich der Generalversammlung der Schweizerisch-Chinesischen Gesellschaft vom 7. Juli 2010 hielt er einen Vortrag zum Thema: "Die unterschiedliche Bedeutung von Information und Medien in der VR China und die Auswirkungen auf die Gesellschaft." Er rief damit einige recht heftige Reaktionen unter den Anwesenden hervor, die ich recht gut nachvollziehen kann. Der nachfolgende Text stellt nur meine eigene, persönliche Reaktion dar und ist keinenfalls eine Stellungnahme der oben genannten Gesellschaft.
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Sehr geehrter Herr Fischer!
Ich wollte Ihnen für Ihren Vortrag vom 7. Juli danken. Auf ein paar Punkte, die Sie angesprochen haben, wollte ich jedoch reagieren. Ich beziehe mich dabei nur auf meine Erinnerungen und auf Notizen, die ich mir kurz danach gemacht habe, ich bitte Sie also um Entschuldigung, wenn ich einiges falsch verstanden oder falsch im Gedächtnis habe.
Ich muss Ihnen gestehen, dass ich selten so heftige Reaktionen auf einen Vortrag über China gehört habe wie an diesem Tag. Ich kann diese Reaktionen auch recht gut verstehen. Ihr Vortrag lief darauf hinaus, dass die Chinesen heute noch nicht kreativ, flexibel und kritisch genug denken und nicht in genügendem Masse fähig sind, Widersprüche zu lösen, um eine wirtschaftliche Entwicklung auf westliches Niveau zu erlauben. Dieser Ansicht möchte ich entschieden widersprechen, und ich bin sicher nicht der einzige, der damit absolut nicht einverstanden ist.
Der Beitrag chinesischer Wissenschaftler beim Aufbau unseres Wissensschatzes
Die meiner Meinung zugrunde liegenden Informationen kommen zum Teil nicht aus China, sondern aus den westlichen Ländern. Zahlreichen chinesischen Masterstudenten und Doktoranten wird ein Aufenthalt an einer ausländischen Universität finanziert, wobei die Kosten meistens von der chinesischen Regierung, manchmal auch vom Gastgeberland getragen werden. Gemäss dem China Statistical Yearbook 2008 waren es 2007 144'000 Studenten. Im gleichen Jahr sind 44'000 von einem Auslandsaufenthalt zurückgekehrt.
Ich kenne zahlreiche Studenten und Doktoranten, die so zu einem Aufenthalt an der ETH oder Uni Lausanne kommen konnten. Für alle war ein einjähriger Aufenthalt geplant. Viele von ihnen sind danach jedoch nicht nach China zurückgekehrt, weil sie an einer Schweizer Universität, an einer ausländischen Universität oder in der Privatwirtschaft einen guten Job angeboten bekamen.
Alle, die ich kenne, haben ihre Ausbildung an öffentlichen chinesischen Schulen und Universitäten bekommen. Wie erklären Sie es sich, dass Chinesen, die nach Ihrer Einschätzung im chinesischen Schulsystem nur das Auswendiglernen einstudiert haben (siehe dazu auch Ihren Artikel vom 25. Juni 2008, "Kaiserliche Einsichten"), von unseren Hightech-Unternehmen und Spitzenuniversitäten als Forscher und Entwickler geschätzt werden?
Dabei kommen nicht die besten Chinesen in die Schweiz. Gemäss übereinstimmenden Aussagen gibt es da ein ziemlich klares Ranking. Die besten gehen in die USA. An zweiter und dritter Stellen im Beliebtheitsranking kommen Japan und Grossbritannien. Dann kommen weitere grosse europäische Länder wie Deutschland und Frankreich. Die Schweiz ist vor allem deshalb doch recht beliebt, weil sich Studenten, die hierherkommen, von der geographischen Nähe zu Deutschland oder von einer Aufenthaltsbewilligung in einem westlichen Land im weiteren Verlauf ihres Auslandsaufenthaltes eine Chance erhoffen, dorthin oder gar in die USA auswandern zu können. Ich kenne persönlich mehrere chinesische Forscher, die es nach einem einjährigen Aufenthalt an einer Schweizer Universität geschafft haben, an einer amerikanischen Spitzenuniversität einen Job zu bekommen.
In den USA haben die Chinesen den Ruf, dass zum Beispiel der Erfolg von Silikon Valley (im Westen der USA, wo es eine grosse chinesische Gemeinschaft gibt) zu einem guten Teil auf ihrer Kompetenz beruht. Auch in anderen Sparten taucht fast systematisch ein chinesischer Name in Publikationen von mehreren Autoren auf.
Es wäre einmal interessant, den Beitrag von chinesischen Wissenschaftlern zum Know-How im Westen und den Beitrag von westlichen Wissenschaftlern zum Know-How in China abzuwägen. Ich habe schon den Eindruck, dass Chinesen mehr zur technologischen Entwicklung des Westens beitragen als umgekehrt. Wenn ein westliches Unternehmen in China seine Geräte zusammenbauen lässt, ist das schliesslich nicht unbedingt Technologietransfer.
Vor allem in technischen Bereichen gehören also zahlreiche Chinesen, die praktisch alle am öffentlichen chinesischen Schulen und Universitäten ausgebildet wurden, zur internationalen Elite. Die Frage ist jetzt natürlich, ob Chinesen auch in anderen Bereichen kreativ und kritisch denken können.
Der Beitrag des kommunistischen Regimes zu Theorien der wirtschaftlichen Entwicklung
Sie haben gezielt den Bereich der Verwaltung angesprochen, wenn Sie von Interviews mit Beamten gesprochen haben. Schon ganz zu Anfang Ihrer Konferenz haben Sie dabei betont, dass sich China erst entwickelt hat, nachdem es sich in den 80er Jahren gegenüber dem Westen geöffnet und davon gelernt hat. Dem möchte ich ebenfalls widersprechen.
China war traditionellerweise ein recht in sich geschlossenes Land. Seit 1840 wurde es jedoch gewaltsam von Grossbritannien gegenüber dem Westen geöffnet. Anders als in Japan hat diese Öffnung dem Land nichts Gutes gebracht. Zur Zeit der Republik hingegen öffnete sich China freiwillig dem Westen. Chiang Kaishek bekehrte sich (zumindest zum Schein) zum Christentum, und auch schon Sun Yatsen hatte sich weitgehend von westlichen Werten inspiriert. Vor allem die USA bemühten sich während dieser Zeit mit erheblichen Mitteln, China bei seiner Entwicklung zur Seite zu stehen.
Wenn man diese Periode jedoch mit genügend Abstand betrachtet, hat diese Bereitschaft Chinas, vom Westen zu lernen, dem Land extrem wenig gebracht. Im Gegenteil, die relative Offenheit führte zu einem völligen Zusammenbruch des Regimes. Wenn man sich nicht auf ein paar Küstenstädte konzentriert (wie dies viele westliche Historiker tun), wo die Kolonialmächte für ein bestimmtes Mass an Sicherheit sorgten und so einen begrenzten wirtschaftlichen Aufschwung ermöglichten, sondern auch Daten in Betracht zieht, die das gesamte Land betreffen, muss man zum Schluss kommen, dass sich China während der ganzen Periode von 1840 bis 1949 praktisch nicht entwickelt hat, trotz seiner Offenheit, während fast alle anderen Länder der Region doch in vielen Bereichen beachtliche Fortschritte gemacht haben (Pro-Kopf-Einkommen, Kindersterblichkeit, Alphabetisierung, usw.).
Wenn man eben diese Indikatoren benutzt, realisiert man, dass China erst 1949 angefangen hat, sich zu entwickeln. Dafür brauchte es die KP China, die weder mit westlichen Ideen noch mit der Ideologie der Sowjetunion, sondern mit einer "hausgemachten" Version des Kommunismus arbeitete, nachdem sich die sowjetische Version in der ersten Hälfte der 1920er Jahre als ungeeignet erwiesen hat. Auch hat China während der Periode Mao Zedongs nur während der ersten Jahre (bezahlte) "Entwicklungshilfe" der Sowjetunion bekommen und sich nachher selber durchgeschlagen.
Ich muss gestehen, dass ich oft schockiert bin zu sehen, wie unausgeglichen unsere Medien und Wissenschaftler allgemein über die Entwicklung der VR China unter Mao Zedong berichten, wobei leider dem Menschenleben als solches kaum irgendein Wert zugesprochen wird. In der Tat wird die westliche Kultur dermassen von der Angst vor einem gewaltsamen Tod beherrscht, dass zum Beispiel Faktoren wie Kindersterblichkeit und Erhöhung der Lebenserwartung kaum Beachtung geschenkt wird. Zahlreiche westliche Historiker haben zum Beispiel berechnet, wie viele Menschen unter Mao Zedong unter der staatlichen Unterdrückung ihr Leben verloren. Hungertote (1960-1962) werden oft auch noch hinzugezählt. Niemand jedoch kümmert jedoch sich um die Hunderte von Millionen Menschen, die dank der Gesundheitspolitik Mao Zedongs eben nicht ihr Leben verloren. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Wenn man den Einfluss des Lebensstandards (BIP pro Kopf, kaufkraftbereinigt) ausschliesst (mit einer linearen Regression der Variablen, die für eine Normalverteilung logtransformiert wurden), hatte China 1980 die weltweit niedrigste Kindersterblichkeit.
Auch während der Öffnungspolitik ab 1978 ging China unter Deng Xiaoping neue Wege, und der Westen hätte gut daran getan, sich davon zu inspirieren, anstatt darüber zu lachen. Das Land öffnete sich nur sehr vorsichtig und langsam dem Westen, und ich erinnere mich noch gut daran, wie die NZZ sich über diese Politik der kleinen Schritte regelmässig lustig machte. Dabei musste die chinesische Führung jedoch bald einsehen, dass auch diese extrem langsame Öffnung noch zu schnell war und eine Instabilität in der Gesellschaft hervorrief, die dann zu den Ereignissen von 1989 führten (dies entspricht nicht ganz der gängigen Auffassung, ich belege diese Ansicht aber gern später einmal im Detail). Vom jetzigen Zeitpunkt aus gesehen gewinnt man den Eindruck, dass China ab 1978 50 oder 60 Jahre brauchen wird, um zu einer Marktwirtschaft zu werden; dieser Prozess ist bekanntlich noch bei Weitem nicht abgeschlossen. Solch ein langer Reformprozess kam meines Wissens nach in der menschlichen Geschichte noch nie vor, und zeugt doch meines Erachtens davon, dass nicht nur Auslandschinesen, sondern auch in China gebliebene Intellektuelle in den letzten Jahrzehnten fundamentale Neuerungen eingeführt haben, welche den Wissensschatz der Welt in wichtigen Bereichen erheblich bereichert haben.
Die Ereignisse der 90er Jahre in der Ex-UdSSR, die Sie ja gut kennen, sind der Grund, weshalb ich meine, dass wir uns vom chinesischen Experiment hätten inspirieren lassen sollen. Als sich die ehemals kommunistischen Länder dem westlichen Einfluss öffneten, habe ich keine Erinnerung an auch nur einen namhaften Experten, der den Nachfolgestaaten der UdSSR geraten hätte, die Einführung der Marktwirtschaft über mehrere Jahrzehnte zu verteilen.
Die wirtschaftlichen Konsequenzen sind allgemein bekannt: das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-BIP von Russland sank zwischen 1990 und 1998 um 34%, dasjenige der Ukraine gar um 52% (gemäss den Daten der Weltbank). Russland hat erst 2003 den Lebensstandard von 1990 erreicht, die Ukraine gar erst 2006, bevor 2008 dann die nächste Krise kam, vor allem in der Ukraine verstärkt durch die Überschuldung, die dieses Wachstum erst möglich gemacht hatte. Wenn man den Lebensstandard dieser beiden Länder in Prozent des Lebensstandard der US ausdrückt, sind die Zahlen noch frappierender: Während Russland 1913 einen Lebensstandard aufwies, der 26% (Bairoch) bzw. 28% (Maddison) desjenigen der USA entsprach, war diese Zahl bis 1990 auf 41% (Weltbank) angewachsen, bevor dieser Prozentsatz auf 18% (1998) fiel. 2008 war er wieder auf 33% angestiegen, hatte aber somit der Wert von 1990 noch lange nicht erreicht.
Eine der wahrscheinlichen Konsequenzen ist, dass das jetzige Regime Russlands genau weiss, dass es mit anti-westlichen Parolen Wählerstimmen anlocken kann. Ich will damit nicht sagen, dass der Zusammenbruch der Ex-UdSSR hätte vermieden werden können, wenn der Westen die Konsequenzen aus dem chinesischen Experiment gezogen hätte, das schon 10 Jahre im Gang war und hervorragende Ergebnisse aufwies. Wenn die Russen aus dem Westen jedoch warnende Stimmen gehört hätten, hätten sie jetzt wahrscheinlich weniger den Eindruck, dass der Westen nicht so sehr daran interessiert war, ihnen zu helfen, sondern vor allem daran, einen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen.
Ich hoffe, dass ich durch diese Beispiele gezeigt habe, dass China mit Experten, die im chinesischen Schulsystem ausgebildet wurden, einen konstruktiven Beitrag bei der Ausarbeitung von Lösungen zu den grossen Problemen dieser Welt geleistet haben. Indem Sie in Ihrem Vortrag jedoch ausschliesslich betonten, dass sich China seit den 80er Jahren entwickelt hätte, weil es sich ab diesem Zeitpunkt dem Westen geöffnet hat und von uns gelernt hat, negieren Sie diesen Beitrag, was bei Personen, welche sich in China gut auskennen, sofort den Eindruck einer unausgeglichenen Berichterstattung und deshalb eine ablehnende Haltung hervorrufen.
Öffentlicher und interner Diskurs
Ich hatte vor einigen Jahren Gelegenheit, sowohl in der Schweiz (Lausanne) als auch in China (Xi'an) eine vergleichbare Gruppe von Studenten zu unterrichten. Ich war damals Assistent an der Germanistikabteilung der Uni Lausanne und unterrichtete dort Studenten im 2. Jahr in Linguistik. Dann ging ich 2005 ein Semester an die 西北工业大学 (Northwestern Polytechnical University) in Xi'an, wo ich Deutsch und Soziolinguistik unterrichtete. Ich kann nur bestätigen, dass die chinesischen Studenten keinesfalls weniger kreativ oder kritisch sind als die Schweizer Studenten. Im Gegenteil, nachdem ich sie kennen gelernt hatte (und vor allem, sie mich) und wir eine Art chinesische Lehrer-Schüler-Vertrauensbeziehung aufgebaut hatten, hatte ich sehr interessante Diskussionen mit ihnen über China, den Westen, die Beziehung zwischen beiden, die Entwicklung Chinas, usw. Ich verdanke ihnen viele Einsichten über dieses faszinierende Land und habe auch heute noch Kontakt zu einigen von ihnen. Ich hatte sehr selten solch interessante Gespräche mit meinen Schweizer Studenten.
Ich kann Ihren Eindruck, dass Chinesen vor allem in vorgegebenen Bahnen denken, jedoch durchaus nachvollziehen. Zur gleichen Zeit, wo ich dort war, war auch ein Professor einer amerikanischen Universität dort. Er hatte darum ersucht, mit Anglistikstudenten über die chinesischen Medien diskutieren zu können. Anschliessend schrieb er einen Bericht über diese Begegnung, in der er sich darüber beklagte, dass den Studenten, mit denen er diskutiert hatte, jegliche kritische Einstellung zu den chinesischen Medien fehlte.
Man kann diese so unterschiedlichen Erfahrungen wie folgt erklären: Chinesen haben zweierlei Diskurse, den Diskurs für öffentlichen Gebrauch und denjenigen für internen Gebraucht. Ersterer wird in öffentlichen Kommuniqués benutzt, aber auch allgemein von Chinesen, wenn sie sich gegenüber Unbekannten und vor allem ausländischen Reportern ausdrücken. Der Diskurs für internen Gebrauch wird gegenüber Personen benutzt, denen sie vertrauen.
Vor allem bei Chinesen im Westen dauert es oft nicht lang, bis man so eine Vertrauensbeziehung aufbauen kann, manchmal weniger als eine Stunde. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist jedoch, dass man sich selber als eine nuanciert denkende Person zu erkennen gibt, die (wenn es sich um Ausländer handelt) über ihr eigenes Land genauso kritisch eingestellt ist wie die Chinesen gegenüber ihrem Land. Wenn man in einer Konferenz zum Beispiel von Anfang an betont, dass China sich nur entwickeln konnte, nachdem es akzeptiert hatte, vom Westen zu lernen, oder wenn man zum Schuss China ein paar NZZ als Erfolgsrezept verschreibt, ist das eine sehr schlechte Basis für den Aufbau einer solchen Beziehung, weil man von vorneherein klarstellt, dass man nicht willens ist, von seinen Gesprächspartnern irgendetwas zu lernen.
Uneingeschränkte Macht der KP oder vielschichtige Feedback-Mechanismen?
In Ihrem Vortrag haben Sie ebenfalls mehrmals die Macht der KP China betont, die, wenn man Ihren Ausführungen glaubt, praktisch uneingeschränkt sei. Die chinesische Bevölkerung wird so zu reinen Befehlsempfängern degradiert. Dies ist allerdings das Bild, das die KP und auch praktisch die ganze Bevölkerung im öffentlichen Diskurs von China zeichnen.
In meinen Diskussionen mit Chinesen war ich jedoch immer wieder erstaunt, wie genau sich die KP bemüht, in den verschiedenen Bereichen den Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen. Sei es in Bezug auf Menschenrechte gegen Sicherheitsbedürfnis, Industrialisierung gegen Umweltschutz, Individualrechte gegen Bedürfnisse der Gesellschaft, man findet oft (im Diskurs für internen Gebraucht) gleich viele Personen, die einen Verschiebung in eine Richtung wünschen wie das Gegenteil.
Andererseits entsprechen die Chinesen auch überhaupt nicht dem Bild von gehorsamen Personen, die einfach die Autorität der Behörden akzeptieren, wie es nur allzu oft in unseren Medien gezeichnet wird. Dass die Kanäle, mit denen die Bevölkerung ihre Wünsche und ggf. ihren Ärger kundtut, oft nicht öffentlich sichtbar sind, ändert jedoch nichts daran, dass sie existieren.
In den westlichen Medien wird auch oft behauptet, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Chinas die Rolle der KP China "nicht in Frage stellen" würde, was dann auch leicht zu einem Argument für die intellektuelle Unflexibilität und die Abwesenheit des kritischen Denkens wird. Dem möchte ich ebenfalls widersprechen.
Im Diskurs für internen Gebrauch wird sehr schnell klar, dass sehr viele Chinesen sich durchaus diese Frage stellen und sie auch diskutieren. Eine grosse Mehrheit scheint jedoch zum Schluss zu kommen, dass es auf jeden Fall in der jetzigen Lage viel besser ist, wenn die KP alleine an der Macht bleibt, während eine Minderheit einen möglichst schnellen Wechsel möchte. Diese Einschätzung teile ich mit vielen Chinesen und westlichen Experten. Es zeigt auf jeden Fall, dass man aus der Tatsache, dass im offiziellen Diskurs die Vormachtstellung der KP nicht diskutiert und dass auch in privaten Gesprächen meist kein radikaler Wechsel gewünscht wird, nicht auf eine Unfähigkeit der Chinesen zum kritischen Denken schliessen darf.
Die Einstellung der Bevölkerung zur Informationskontrolle
Auch was die Informationskontrolle betrifft, die Sie mehrmals erwähnt haben, haben zahlreiche Diskussionen mit Chinesen ergeben, dass ein Grossteil von ihnen völlig freie Medien aus verschiedenen Gründen ablehnen. Meistens wird dabei die Angst vor dem Chaos angeführt, wobei sich zu diesem recht globalen Argument oft eine detailliertere Analyse gesellt.
In den letzten Jahrzehnten haben vor allem die Probleme mit der Sekte Falungong einen Grossteil der Bevölkerung beunruhigt. In westlichen Medien wird nie über die gesellschaftlichen Probleme berichtet, die von dieser Sekte im grossen Massstab verursacht wurden. Dabei genügt es, ein paar Chinesen, die man gut kennt ("Diskurs für internen Gebrauch"), nach ihren Erfahrungen im persönlichen Umfeld zu fragen.
Die Ereignisse 1989 sind ein anderer Grund dafür. Viele Chinesen halten die Art, wie die Bewegung in Peking unterdrückt wurde, für problematisch oder sogar ausgesprochen kriminell. Vor allem im Rückblick auf die spätere Entwicklung in der Ex-Sowjetunion sind sich jedoch die meisten von ihnen einig, dass man den Demonstranten nicht einfach gewähren konnte, was sie verlangten. Dabei erscheint eine Kontrolle der Medien als ein vergleichsweise sanftes Mittel, um die Wiederholung solcher Ereignisse zu verhindern.
Auch die Berichterstattung der westlichen Medien wird als Grund angeführt. Viele Informationen, die man in unseren Medien findet, stammen ursprünglich aus chinesischen Medien. Ich bin mehrmals auf die Meinung getroffen, dass es unweise wäre, die chinesischen Medien beliebig negativ über China berichten zu lassen, weil sich dies negativ auf das Bild Chinas im Ausland niederschlagen würde, da die westlichen Medien meistens nur die negativen Informationen über China übernehmen. Wenn man sieht, wie unverantwortlich unsere Medien mit der zusätzlichen Freiheit umgegangen sind, die sie im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 bekommen haben, kann man ihnen nicht unbedingt unrecht geben.
Die Zensur in China ist also bei weitem nicht nur ein Instrument zur Machterhaltung, sondern wird von einem Grossteil der Bevölkerung als notwendig betrachtet, aus Gründen, die man nicht einfach als irrational oder von der kommunistischen Propaganda bedingt abtun kann.
Die Berichterstattung der westlichen Medien: Objektivität oder ideologischer Einschlag?
Ich behaupte nicht, dass meine bisherigen Erwägungen ein ausgewogenes Bild von China zeichnen. Es gibt in diesem Land zahlreiche Probleme, deren bin ich mir sehr wohl bewusst (und deren sich auch die zahlreichen Chinesen, mit denen ich diskutiert habe, bewusst sind). Ich wollte einfach zu Ihren Ausführungen ein paar möglichst fundierte Gegenargumente anführen. Im Grunde geht es vor allem darum, dem Vorwurf von Herrn Liang, dem chinesischen Generalkonsul in Zürich, nachzugehen, dass Ihr Vortrag ideologisch voreingenommen sei, was Sie entschieden bestritten haben. Es geht hier nicht darum, Ihnen die Benutzung von falschen Informationen vorzuwerfen, sondern darum, Ihre Auswahl der Informationen, die Sie dargelegt haben, zu diskutieren. Wie Sie in Ihrem Artikel vom 8. September 2007 über Russland gesagt haben: "So haben häufig von zwei, die zum gleichen Thema das Gegenteil behaupten, beide recht." Dies gilt selbstverständlich auch für China, darüber sind wir uns einig. Wenn von zwei möglichen gegenteiligen Behauptungen beide vertretbar sind, ist es eben interessant zu sehen, wer dann welche der beiden Aussagen anführt.
In Ihrem Vortrag haben Sie mit der Schwierigkeit begonnen, in China Informationen von Beamten zu erhalten, weil alle aus irgendeinem Grund nach Vorwänden suchten, um nicht mit Ihnen sprechen zu müssen. Dann folgten einige Ausführungen über die Kontrolle der Informationen. Daraus, aus der Anekdote des chinesischen Bezeichnung des Kompasses (siehe unten) und aus der Beschreibung eines chinesischen Schulsystems, das vor allem auf das Auswendiglernen ausgerichtet sei, schlossen Sie auf eine mangelnde Fähigkeit der Chinesen zum kritischen und kreativen Denken, das aber für eine weitere wirtschaftliche Entwicklung des Landes nötig sei. Sie haben damit geschlossen, dass Sie China ein paar NZZ (also frei denkende, kritische Zeitungen) empfehlen, um eben dieses kritische und kreative Denken anzuregen.
Obwohl die NZZ bekanntlich eher "rechts" orientiert ist, kann ich in Ihren Ausführungen keine derartige Tendenz feststellen. Wenn man "Ideologie" also im Sinne einer westlichen politischen Ideologie versteht, kann man Ihnen keine Voreingenommenheit vorwerfen.
Es ist jedoch auffällig, Ihre Auswahl der Argumente systematisch in eine bestimmte Richtung hin tendiert. Sie sprechen ausschliesslich über den Wissenstransfer Westen-China (China hat sich in den 80er Jahren dank dem Lernen vom Westen entwickelt; die NZZ als Denkanstoss; das chinesische Schulsystem), während der tatsächliche Transfer in die andere Richtung (massiver Beitrag von chinesischen Wissenschaftlern und Forschern im Westen) und der mögliche, wenn der Westen dafür offen genug wäre (chinesisches Entwicklungsmodell) unerwähnt bleiben. Auch werden Maos Verdienste systematisch herabgesetzt, da diese ja ohne westliche Hilfe geschahen.
Sie beschreiben China als eine extrem starre, hierarchisch aufgebaute Gesellschaft, obwohl viele Chinesen eben das Gegenteil anführen, was ich auch aus eigener Erfahrung bestätigen kann: China würde nach diesem Modell eine "starke Hand" benötigen, weil den Leuten die westliche Disziplin fehlt (und eben nicht die Kreativität), welche die Voraussetzung für das Funktionieren eines freiheitlichen Systems bildet.
Man kann also in Ihrem Vortrag (und auch allgemein in der Berichterstattung der westlichen Medien) eine Ideologie feststellen, welche eine Überlegenheit des westlichen wissenschaftlichen, kreativen und kritischen Denkens sowie unseres freiheitlichen Gesellschaftsmodells postuliert, und gegenteilige Argumente durch Nichtbeachten ausschliesst.
In der Tat wurde mir erst durch zahlreiche Diskussionen mit Chinesen bewusst, wir extrem einheitlich unsere Medien über China berichten. Ich war ehrlich gesagt oft schockiert, dass ich beunruhigend oft erkennen musste, dass Argumente, die von chinesischen Gesprächspartnern angeführt wurden, mir aber völlig absurd oder falsch erschienen, sich auf Grund von Daten von westlichen Experten oder von internationalen Organisationen als richtig erwiesen (um nur einige schnell zu nennen: Menschenrechte, Tibet, Mao Zedong, wirtschaftliche Entwicklung der UdSSR, usw.).
Insofern kann ich leider durchaus nachvollziehen, dass viele Chinesen unseren Medien "ideologische Voreingenommenheit" vorwerfen, und es anhand von vielen Beispielen auch belegen. Die Art, wie unsere Medien 2008 im Vorfeld der olympischen Spiele über China berichtet haben, hat diese Meinung leider nur bestärkt.
Dies ist der Konstruktion einer multipolaren Welt, die ja von vielen herbeigewünscht wird, nicht förderlich. Insofern würde ich mir eine koordinierte Anstrengung wünschen, um diesen Graben zu überbrücken. Dafür braucht es jedoch auf westlicher Seite die Bereitschaft, konstruktive Beiträge Chinas anzuerkennen, welche ich im Moment leider nicht unbedingt sehe.
Ein paar weitere Punkte
Ich möchte noch ein paar weitere Punkte Ihres Vortrags aufgreifen, mit denen ich nicht ganz einverstanden bin.
"指南针", ein Widerspruch, den die Chinesen nicht lösen können?
Sie haben das Beispiel des chinesischen Begriffes für einen Kompass, "指南针", "die Nadel, die nach Süden zeigt", benutzt, und aus der Tatsache, dass die Kompassnadel in Wirklichkeit auf den magnetischen Nordpol zeige, geschlossen, dass Chinesen nicht bereit oder fähig seien, Widersprüche in ihrer Sprache zu lösen.
Nur ist leider schon die Annahme, dass eine Kompassnadel auf den "magnetischen Nordpol" zeige, falsch. Der "magnetische Nordpol" hat keine physikalische Existenz. Die gesamte Erdkugel ist von einem Magnetfeld durchdrungen und umgeben. Die zwei Orte, an denen die Symmetrieachse dieses Magnetfeldes die Erdoberfläche durchschneidet, kann man als "magnetischer Nordpol" und "magnetischer Südpol" bezeichnen (obwohl auch das nicht ganz korrekt ist, und der geomagnetische Nordpol in Wirklichkeit der Südpol des magnetischen Feldes ist, und umgekehrt). Eine Kompassnadel zeigt jedoch nicht auf einen dieser Punkte (sonst müsste sie in einem Winkel in die Erde hinein weisen), sondern richtet sich parallel zu den Magnetfeldlinien aus, die auch in unseren Breitengraden praktisch parallel zur Erdoberfläche verlaufen. Den Kompass "指南针" zu nennen ist also, rein wissenschaftlich betrachtet, genauso korrekt wie ihn "指北针" zu nennen.
Dass wir mehr vom "magnetischen Nordpol" sprechen als vom "magnetischen Südpol" (5520 mal in Google gegen 3250 mal), hat meiner Meinung nach viel mehr mit der westlichen nordzentrierten Kultur zu tun, die den "Norden" für den Wegweiser der gesamten Erdkugel hält.
All diese Überlegungen sind jedoch unerheblich, wenn man zwischen wissenschaftlicher Erklärung und Etymologie unterscheidet, was man bei jeder Überlegung zur menschlichen Sprache tun sollte. Sind wir Germanophonen unfähig, Widersprüche zu lösen, weil wir einen Bleistift weiterhin "Bleistift" nennen? Jahrtausendelang wurde tatsächlich Blei dafür benutzt, und auch als man zur Benutzung von Graphit überging, dachte man ein Jahrhundert lang, dass es sich dabei um ein Bleierz handelte. Das gleiche gilt für den Begriff "Atom", der ursprünglich "unteilbar" bedeutet, obwohl wir schon seit mehr als einem Jahrhundert wissen, dass Atome eben nicht unteilbar sind. Aus der Etymologie der Wörter einer Sprache auf die kognitiven Fähigkeiten der diese Sprache benutzenden Menschen zu schliessen ist also gelinde gesagt unvertretbar.
Eine "gezielte Assimilationspolitik Chinas gegenüber den nationalen Minderheiten"?
Sie haben in Bezug auf die Uyghuren von einer "gezielten Assimilationspolitik" gesprochen, weil viele Angehörigen dieser Minderheit ihre Kinder in chinesischsprachige Schulen schicken anstatt in Schulen, wo in der Minderheitensprache unterrichtet wird. Meiner Meinung nach ist das ein denkbar schlechtes Beispiel für eine "Assimilationspolitik".
Ich möchte bei weitem nicht behaupten, dass die nationalen Minderheiten in China keine Probleme haben. Dieser Probleme sind sich auch die chinesischen Behörden bewusst. Ich möchte nur kurz am Beispiel Frankreichs und der Schweiz den Unterschied zwischen einer "gezielten Assimilationspolitik" und einer minderheitenfreundlichen Politik aufzeigen, die jedoch längst nicht im Stande ist, alle Probleme zu lösen, und auch nicht langfristig die Existenz der betroffenen Minderheit garantieren kann.
In Frankreich ist es aufgrund der Verfassung unmöglich, Minderheiten auf dem Gebiet der Metropole öffentliche Schulen in ihrer Sprache anzubieten: Frankreich ist das Land des französischen Volkes, und die einzige offizielle Sprache ist Französisch. Erst seit den 1990er Jahren ist es Eltern möglich, ihre Kinder in Privatschulen zu schicken, wo sie in einer Minderheitensprache unterrichtet werden; dies ist natürlich nur wohlhabenden Eltern möglich.
Dementsprechend gibt es im französischen Baskenland nur noch ca. ein Zehntel der Sprecher dieser Sprache als im spanischen Baskenland, wo sie eine sehr weitgehende Autonomie geniessen. Dass solch eine Autonomie längst keine Stabilität sichern kann wird dadurch illustriert, dass es im spanischen Baskenland seit Jahrzehnten regelmässig zu Gewaltakten von Seiten von Separatisten kommt, während es im französischen Baskenland relativ ruhig ist. Bald wird es in Frankreich sowieso keine Basken mehr geben, und die französische Assimilationspolitik wird ihr Ziel erreicht haben.
In der Schweiz hingegen ist der Schutz aller Minderheiten in der Verfassung verankert, der Schutz der Rätoromanen wird sogar separat erwähnt. Trotzdem ist die Existenz dieser Minderheit extrem gefährdet. Nachdem es in den 90er Jahren eine gross angelegte Kampagne zu ihrem Schutz gab, ist es in den letzten Jahren viel ruhiger geworden, wahrscheinlich, weil sich die meisten mit dem baldigen Aussterben abgefunden haben.
Die chinesische Minderheitenpolitik ist zweifellos erheblich problematischer als die schweizerische. Die Tatsache, dass es für zahlreiche Minderheiten Schulen (oft bis einschliesslich zur Universität) in der Minderheitensprache gibt, dass Medien in der Minderheitensprache gezielt gefördert werden und dass es auch sonst viele Anstrengungen gibt, um Kultur und Sprache der Minderheiten zu bewahren, lässt die Bezeichnung "gezielte Assimilationspolitik" zumindest fragwürdig erscheinen.
Ich würde mir wünschen, dass zumindest seriöse Zeitungen wie die NZZ einmal eine vergleichende Berichterstattung über verschiedene Minderheiten auf der Welt wagten. In Asien gibt es zum Beispiel kaum Länder mit Minderheiten, wo es in den letzten Jahren nicht zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. In den westlichen Ländern sind zahlreiche Minderheiten akut vom Aussterben bedroht, wobei dies kaum jemanden kümmert.
Auch in diesem Bereich gibt es meiner Ansicht nach kein Vorwärtskommen, wenn wir nicht fähig sind, auch einmal von den Chinesen (und anderen nicht westlichen Ländern dieser Erde) zu lernen. Auch müssten wir bereit sein, die Rolle des Westens insbesondere in Bezug auf Tibet und viele andere Minderheiten auf dieser Erde kritisch zu beleuchten, wofür ich leider ebenfalls keine Anzeichen sehe.
Warum produzieren chinesische Unternehmen noch keine High-Tech-Produkte, wenn chinesische Wissenschaftler und Ingenieure so gut sind?
Um mich einmal kurz zu fassen: Individuelle Arbeitskräfte in einem bestehenden Betrieb zu integrieren ist erheblich einfacher als einen neuen Betrieb mit dazugehörigen Know-How und Betriebskultur aufzubauen. Es gibt einige Bereiche, wo chinesische Firmen schon mit eigenem Know-How in der High-Tech-Spitzenliga mitspielen, z.B. bei den CCD-Sensoren, die in digitalen Kameras Verwendung finden. So nach und nach werden weitere Unternehmen dazu stossen. Dass dieser Prozess jedoch noch Jahrzehnte beanspruchen wird, darüber sind sich Experten einig.
Warum hat das freiheitliche Entwicklungsmodell im Westen funktioniert, aber nicht in China?
Dieser letzte Abschnitt ist noch keine ausgereifte Theorie, kann aber vielleicht als Denkanstoss dienen.
Die meisten Autoren, die die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung der verschiedenen Regionen der Erde in den letzten Jahrhunderten zu erklären versuchen, geben den relativen Liberalismus der westlichen Regime als wichtigen Grund an.
Der Anfang der Industrialisierung in Europa fand zwar noch zu Zeiten der Monarchien statt und es gab auch in Westeuropa politische Regime, die den wirtschaftlichen Aufschwung von oben her organisiert haben (z.B. Deutschland im 19. Jahrhundert), es überwog aber vor allem im wirtschaftlichen Bereich eine Haltung des laissez-faire. In Ländern, wo die Hand des Staates zu schwer auf der Wirtschaft lastete wie zum Beispiel im Süden Europas, fand keine Industrialisierung mit dementsprechender wirtschaftlicher Entwicklung statt.
Auch Japan hat sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach diesem Modell erfolgreich entwickelt. Da China eigentlich die gleichen Rahmenbedingungen aufwies (eine isolationistische Monarchie, die vom Westen mit Gewalt geöffnet wurde), hätte China sich eigentlich auf die gleiche Weise entwickeln können. Ein Faktor wird von diesen Autoren zwar erwähnt, meiner Meinung nach aber stark unterbewertet: Ich möchte die These aufstellen, dass dieses Modell nur funktioniert, wenn es mit erheblichem Militarismus und Expansionismus gekoppelt ist.
Eine liberale Wirtschaftspolitik kann in einer Gesellschaft extreme Spannungen hervorrufen, weil sie zur Konzentration der Produktionsmittel in den Händen von wenigen Reichen führt. In der chinesischen Geschichte kann man die Konsequenzen solch einer Entwicklung nur zu gut verfolgen: Die Unzufriedenheit der landlosen Bauern führte regelmässig zu einem Dynastiewechsel, wobei jede neue Dynastie zuerst mit Landreformen wieder ein Gleichgewicht herstellte, dann aber dieses Gleichgewicht trotz einer konservativen Politik nicht aufrechterhalten konnte und schliesslich unterging.
Europa konnte sich ein liberaleres System leisten, weil ständige europainterne Kriege regelmässig zu einer Reduktion der Bevölkerung führten und vor allem weil seit dem 16. Jahrhundert mit Amerika ein riesiger dünn besiedelter und schlecht verteidigter Kontinent zur Besiedlung frei stand.
Auch die Industrialisierung ab dem 18. Jahrhundert war stark auf die Kolonialmärkte angewiesen, die oft mit Gewalt geöffnet wurden, und auf die Märkte der Neuen Welt, wo unbegrenzt zur Verfügung stehendes Land einen hohen Lebensstandard mit entsprechender Kaufkraft ermöglichte. Wie hätte zum Beispiel die britische industrielle Textilindustrie bestehen können, wenn sie sich mit dem einheimischen Markt hätte begnügen müssen? Sie hätte nicht mehr einnehmen können als die Handwerker, die sie ersetzte, hätte aber viele von eben diesen Handwerkern um ihren Verdienst gebracht.
Der Zusammenhang mit dem Militarismus ist vor allem in den Fällen von Deutschland und Japan offensichtlich. Preussen hat als erstes Land die Schulpflicht eingeführt. Der Grund war nicht Humanismus, sondern die Einsicht, dass eine Milizarmee ein viel grösseres Heer in Kriegszeiten erlaubte als die damals übliche Berufsarmee, dass erstere jedoch nur mit einer durch die allgemeine Schulpflicht disziplinierten Bevölkerung möglich war. Das dadurch bedingte hohe Bildungsniveau der Bevölkerung war dann ein starker positiver Faktor, als die Industrialisierung technologisch anspruchsvoller wurde.
Zahlreiche Historiker und Entwicklungsexperten halten China die japanische Entwicklung als positives Beispiel vor. Dabei übersehen sie jedoch völlig, dass die militärische Expansion schon von Anfang an eine treibende Kraft hinter dem japanischen Aufschwung war. Nachdem 1868 die Meiji-Restauration die Modernisierung Japans einleitete, folgte 1895 ein Seekrieg gegen China, bei dem Japan koloniale Privilegien in China und die Kolonisierung von Taiwan erreichte, 1904/1905 der Seekrieg gegen Russland, die Kolonisierung Koreas ab 1905/1910, 1931 die Kolonisierung der Mandschurei, 1937 der Angriff gegen den Rest von China und schliesslich 1941 der Angriff gegen die USA und die Kolonisierung von weiten Teilen von Südostasien.
Ohne den Anreiz dieser Kolonisierung wäre die Industrialisierung für Japan kaum verlocken gewesen. Welchen Grund hätte der Adel gehabt, seine Privilegien der Bildung und der prestigeträchtigen Jobs mit nicht-adeligen zu teilen, wie das für eine gelungene Industrialisierung notwendig ist? Welchen Grund hätten die Fabrikarbeiter gehabt, ihr vorhergehendes Landleben gegen die Hölle der frühen Industrie zu tauschen? Die Verheissung, unter allen asiatischen Völkern auserwählt zu sein um den ganzen Kontinent zu beherrschen, war sicher ein starker Anreiz.
Auch wenn die japanische Entwicklung vielleicht auch ohne diesen Faktor möglich gewesen wäre, hätte Japan wohl kaum der Versuchung widerstehen können, eine einmal erreichte Militär- und Wirtschaftsmacht zur Eroberung weniger entwickelter Gebiete Asiens einzusetzen, da zu dieser Zeit auf der ganzen Welt die Überzeugung gängig war, dass der Besitz von Kolonien zum Wohle und zur Sicherheit eines Landes nötig waren.
Es tut mir leid, das so deutlich zu sagen, aber China vorzuwerfen, dass es nicht dem gleichen Pfad gefolgt ist wie Japan, ist einfach krimineller Schwachsinn. Was hätten "wir" (die nicht-faschistischen) Länder im zweiten Weltkrieg getan, wenn China sich gleich entwickelt hätte wie Japan? China hatte eine viel grössere Bevölkerung (520 Millionen gegen 73 Millionen im Jahr 1940), eine viel grössere strategische Tiefe, welche die Bombardierung seiner Rüstungsindustrie viel schwieriger gemacht hätte, viele Rohstoffvorkommen (Kohle, Eisenerz, Erdöl, usw.), die Japan fehlten, und gute Landverbindungen zu den potentiellen Kolonien, während Japan auf Seeverbindungen angewiesen war, die leicht zu unterbrechen waren.
Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, warum die japanische Monarchie auf die gewaltsame Öffnung mit einer schnellen Modernisierung reagiert hat, die chinesische Monarchie hingegen mit weitgehender Passivität. Der Gegensatz zwischen japanischem Samurai-Ideal und chinesischem Gelehrten-Ideal hat sicher eine Rolle gespielt, wie auch die Tatsache, dass für das grosse China die Kolonisierung von anderen Teilen Asiens einen geringeren relativen Machtzuwachs gebracht hätte als für das kleinere Japan. Wir können jedoch nur froh sein (und den Chinesen danken), dass sich China seit den 1850er Jahren nicht wie Japan entwickelt hat, sonst hätten wir in den 1940er Jahren vor ungleich grösseren Problemen gestanden.
Während für China das militärisch-expansionistische Entwicklungsmodell 1850 zwar weniger verlockend war als für Japan, aber doch möglich gewesen wäre, ist diese Möglichkeit seit 1950 nicht mehr gegeben, da es starke internationale Mechanismen gibt, die aggressive Eroberungen verhindern. Ein Land kann also die sich aus einer liberalen Wirtschaftspolitik ergebende Instabilität nicht mehr dadurch auffangen, dass es seine rebellierenden Armen einfach als Kanonenfutter in den Krieg oder als Mückenfutter in die Tropen schickt mit dem Versprechen, dass sie als dekorierte Kriegshelden zurückkehren oder ein reiches Leben als Weisse unter Einheimischen führen werden.
Diese neuen Rahmenbedingungen können viele Eigenheiten der chinesischen Entwicklung erklären:
- Die Notwendigkeit der Geburtenkontrolle (Ein-Kind-Politik)
- Eine zentralisierte Verwaltung von beschränkten Ressourcen, z.B. Land
- Ein stärkeres Eingreifen des Staates in die Wirtschaft
- Die sich daraus ergebende Notwendigkeit der Kontrolle der Information
- Davon abgeleitet die Differenzierung zwischen offiziellem Diskurs und Diskurs für internen Gebrauch
Dies bedeutet jedoch, dass Ländern, die noch ganz am Anfang ihrer Entwicklung stehen, ebenfalls nicht die gleichen Möglichkeiten offen stehen wie den westlichen Ländern, und dass ein neues Entwicklungsmodell erstellt werden muss. China kann dabei sicher einen grossen Beitrag leisten, den es aber auch zu würdigen gilt. In den westlichen Medien und in der NZZ habe ich bisher noch keine echte Bereitschaft angetroffen, das chinesische Modell als Inspirationsquelle für andere Länder ernst zu nehmen.
Ein am 20. Juni 2010 in der NZZ erschienenes Interview von Ian Bremmer, einem amerikanischen Politologien, ist ein gutes Beispiel für die dahinter liegende Einstellung:
A. M.: Was empfehlen Sie speziell den USA?
I. B.: Die USA müssen auch zukünftig «unverzichtbar» für den Rest der Welt sein. Dazu gehören ein Abbau der Schulden, die Erneuerung der öffentlichen Schulen und der Infrastruktur, aber auch zusätzliche Investitionen in die Forschung. All dies wird auch dafür sorgen, dass wir die Basis für unsere überlegene militärische Macht nicht verlieren.
Wenn wir uns weiter an den Mythos der Überlegenheit des Westens klammern, von dem alle anderen Länder schön brav lernen sollen, werden die Historiker der kommenden Jahrhunderte genauso über uns lachen, wie heutige westliche Historiker über das China des 18. und 19. Jahrhunderts lachen. Der Westen wird seine "Unverzichtbarkeit" und seine militärische Vormachtstellung auf die Dauer sowieso verlieren und sich in eine multipolare Welt eingliedern müssen. Die verschiedenen Machtzentren müssen dafür ein neues Modell für die internationale Zusammenarbeit ausarbeiten, und je konstruktiver der Westen dabei mitarbeitet, und dies bedeutet auch, dass alle akzeptieren, dass sie von den anderen lernen können, desto glatter wird dieser Prozess ablaufen.